Medicus 01 - Der Medicus
Lonzano sah ihn an. »Ein Jude überlebt eben auf diese Weise.«
Sie umritten den Urmiasee im Nordosten und befanden sich bald wieder zwischen hohen, baumlosen Bergen. Sie übernachteten bei Juden in Tebria und Takestan. Rob merkte kaum einen Unterschied zwischen den Orten und den Dörfern in der Türkei. Es waren öde, auf steinigem Geröll erbaute Bergdörfer, in denen die Menschen im Schatten schliefen und Ziegen beim Gemeindebrunnen herumstreunten. Kashan war auch so, aber Kashan hatte einen Löwen über dem Tor. Einen wirklichen, riesigen Löwen.
»Das ist ein berühmtes Tier, es mißt fünfundvierzig Spannen von der Schnauze bis zum Schwanz«, erklärte Lonzano stolz, als wäre es sein Löwe. »Er wurde vor zwanzig Jahren von Abdallah Schah, dem Vater des jetzigen Herrschers, erlegt. Er richtete sieben Jahre lang großen Schaden unter den Viehherden dieses Gebietes an, und schließlich brachte ihn Abdallah zur Strecke. In Kashan findet jedes Jahr am Jahrestag der Jagd eine Feier statt.«
Nun hatte der Löwe getrocknete Aprikosen statt der Augen und ein Stück roten Filzes als Zunge, und Arieh wies verächtlich darauf hin, daß er mit Lumpen und trockenem Unkraut ausgestopft sei. Generationen von Motten hatten das von der Sonne getrocknete Fell stellenweise bis auf die nackte Haut abgefressen, aber die Beine des Löw6n waren wie Säulen, und er hatte noch immer seine großen Zähne, die scharf wie Lanzenspitzen waren, so daß Rob eine Gänsehaut bekam, als er sie sah.
»Ich möchte so einem Tier nicht gern begegnen.« Arieh lächelte überlegen. »Die meisten Menschen gehen durch das Leben, ohne jemals einen Löwen zu sehen.«
Der mbbenu von Kashan war ein vierschrötiger Mann mit rotblondem Haar und Bart. Er hieß David ben Sauli der Lehrer, und Lonzano sagte, daß er schon einen Ruf als Gelehrter besitze, obwohl er noch jung sei. Er war der erste rabbenu , den Rob sah, der einen Turban anstelle eines jüdischen Lederhutes trug. Als er sprach, zeigten sich wieder die Sorgenfalten in Lonzanos Gesicht.
»Es ist gefährlich, die Route nach Süden durch die Berge zu nehmen«, warnte sie der rabbenu . »Ein großer Verband von Seldschuken versperrt dort den Weg.«
»Wer sind die Seldschuken?« fragte Rob.
»Sie sind ein Hirtenvolk, das statt in Dörfern in Zelten lebt«, antwortete Lonzano. »Mörder und wilde Kämpfer.
Sie fallen in den Gebieten zu beiden Seiten der Grenze zwischen Persien und der Türkei ein.«
»Ihr könnt nicht durch die Berge ziehen«, beschied der rabbenu traurig. »Die Krieger der Seldschuken sind wilder als Straßenräuber.« Lonzano sah Rob, Loeb und Arieh an. »Dann bleiben uns nur zwei Möglichkeiten. Wir können hier in Kashan warten, bis die Schwierigkeiten mit den Seldschuken vorbei sind, was viele Monate, vielleicht ein Jahr dauern kann, oder wir können die Berge und die Seldschuken umgehen und durch die Wüste und dann durch die Wälder nach Isfahan gelangen. Ich bin noch nie durch die Wüste Dasht-i-Kavir gezogen, habe aber andere Wüsten durchquert und weiß, wie furchtbar das ist.« Er wandte sich an den rabbenu . »Kann man sie durchqueren?«
»Ihr müßt nicht durch die ganze Dasht-i-Kavir, das verhüte der Himmel«, meinte der rabbenu bedächtig. »Ihr müßt nur einen Teil davon durchqueren, eine Reise von drei Tagen nach Osten und dann nach Süden. Ja, manche wagen es. Wir können euch die Route beschreiben, die ihr reiten sollt.«
Die vier blickten einander an. Schließlich brach Loeb, der nicht gerne viele Worte machte, das bedrückte Schweigen. »Ich will nicht ein Jahr lang hierbleiben«, entschied er und sprach damit den anderen drei aus dem Herzen.
Jeder kaufte einen großen Wassersack aus Ziegenleder und füllte ihn vor der Abreise aus Kashan. Der volle Sack wog schwer. »Brauchen wir soviel Wasser für drei Tage?« fragte Rob.
»Man muss mit unvorhersehbaren Zwischenfällen rechnen, wir werden uns vielleicht länger in der Wüste aufhalten«, gab Lonzano zu bedenken. »Und Ihr müßt Euren Wasservorrat mit Euren Tieren teilen, denn wir durchqueren die Dasht-i-Kavir mit unseren Eseln und Maultieren und nicht mit Kamelen.« Ein Führer aus Kashan begleitete sie auf einem alten Schimmel bis zu der Stelle, an der ein fast unkenntlicher Pfad von der Straße abzweigte. Die Dasht-i-Kavir-Wüste begann mit einer lehmigen Hügelkette, auf der man leichter vorankam als in den Bergen. Zuerst machten sie gute Fortschritte, und für einige Zeit stieg ihre Laune.
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