Medicus 01 - Der Medicus
müßig auf dem Strohsack liegenzubleiben. »Die Medizin bedeutet dir alles«, bemerkte Karim eines Morgens scharfsinnig. »Ich weiß es, und deshalb habe ich keinen Einwand erhoben, als du die Führung unserer kleinen Gruppe in die Hand nahmst.«
Rob öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloß ihn aber rasch, denn er merkte, daß es der Wahrheit entsprach. »Ich war wütend, als Fadil Ibn Parviz zum Anführer ernannt wurde«, gestand Karim. »Er schneidet bei Prüfungen stets gut ab und wird von den Lehrern geschätzt, aber als praktizierender Medicus ist er nichts wert. Außerdem hat er das Studium zwei Jahre nach mir begonnen und ist bereits hakim , während ich noch Student bin.«
»Wie konntest du dann mich anerkennen, obwohl ich noch nicht einmal ein volles Jahr studiere?«
»Du bist etwas anderes, du stehst unter einer Art Zwang zu heilen und bist deshalb außerhalb des Wettbewerbs.«
Rob lächelte. »Ich habe dich in diesen schweren Wochen beobachtet. Bist du nicht aus dem gleichen Holz?«
»Nein«, antwortete Karim ruhig. »Mißverstehe mich aber nicht! Ich möchte der beste aller Ärzte werden aber zumindest ebenso gern möchte ich reich werden. Reich zu werden ist aber nicht dein großes Ziel, oder, Jesse?«
Rob schüttelte den Kopf.
»Als ich im Dorf Carsh in der Provinz Hamadhãn lebte und noch ein Kind war, führte Abdallah Scha, Alã Sbahanshas Vater, eine große Armee gegen Seldschukenbanden durch unser Gebiet. Wo immer Abdallahs Armee haltmachte, kehrte Elend ein: die Heimsuchung durch die Soldaten. Sie raubten Feldfrüchte und Tiere, Nahrung, die für das Volk Überleben oder Untergang bedeutete. Als die Armee weiterzog, hungerten wir. Ich war fünf Jahre alt. Zuerst starb mein Vater, dann meine Mutter. Ein Jahr lang lebte ich auf den Straßen mit Bettlern; ich war ein Betteljunge. Schließlich wurde ich von Zaki-Omar, einem Freund meines Vaters, aufgenommen. Er war ein bekannter Athlet. Er zog mich auf und lehrte mich zu laufen — und neun Jahre lang fickte er mich in den Arsch.«
Karim verstummte einen Augenblick, die Stille wurde nur vom leisen Stöhnen eines Patienten am anderen Ende des Raumes unterbrochen. »Als er starb, war ich fünfzehn. Seine Familie warf mich hinaus, aber er hatte dafür gesorgt, daß ich in die madrassa eintreten konnte. So kam ich nach Isfahan, zum erstenmal ein freier Mensch.
Wenn ich einmal Söhne bekomme, bin ich fest entschlossen, ihnen eine gesicherte Zukunft zu bieten, und diese Sicherheit gibt nur der Reichtum.« Als Kinder haben wir, eine halbe Welt voneinander entfernt, die gleichen Schicksalsschläge erlebt, dachte Rob. Wenn er etwas weniger Glück gehabt hätte oder der Bader ein weniger guter Mensch gewesen wäre...
Ihr Gespräch wurde durch die Ankunft Mirdins unterbrochen, der sich auf der anderen Seite des Strohsacks auf den Boden setzte. »Gestern ist in Schiras niemand gestorben.«
»Allah!« staunte Karim.
»Niemand ist gestorben!«
Rob reichte beiden die Hand. Auch Karim und Mirdin faßten einander an der Hand. Sie waren über Lachen und über Tränen hinaus wie alte Männer, die ein ganzes Leben miteinander geteilt haben. Sie blickten einander an und genossen das Bewußtsein, überlebt zu haben.
Es dauerte noch zehn Tage, bis Rob stark genug war, um heimzureisen. Die Kunde, daß die Pest zu Ende war, hatte sich verbreitet. Es würde zwar Jahre dauern, bis wieder Bäume in Schiras wuchsen, aber die Menschen begannen zurückzukommen, und einige brachten Holz mit. Sie kamen an einem Gebäude vorbei, an dessen Fenster Tischler Fensterläden befestigten, und an anderen Häusern, wo Männer Türen einsetzten. Es tat ihnen gut, die Stadt zu verlassen und nach Norden zu reiten.
Sie reisten ohne Hast. Als sie das Haus des Kaufmanns Ishmael erreichten, stiegen sie ab und klopften an. Aber niemand öffnete. Mirdin rümpfte die Nase. »In der Nähe liegen Tote«, erklärte er leise. Als sie das Haus betraten, fanden sie die verwesten Leichen des Kaufmanns und des hakim Fadil. Von Abbas Sefi war keine Spur zu entdecken. Er war zweifellos aus dem >sicheren Zufluchtsort< geflohen, als er sah, daß die beiden anderen von der Seuche befallen waren. So mußten sie noch eine letzte Pflicht erfüllen, ehe sie das Pestgebiet verlassen konnten. Sie sprachen Gebete, entzündeten mit der wertvollen Einrichtung des Kaufmanns ein großes Feuer und verbrannten die beiden Leichen.
Von acht Mann, die Isfahan mit der Medizinerabordnung verlassen hatten, kamen
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