Medicus 01 - Der Medicus
verzerrt, die glänzenden Augen quollen dem Mann aus den Höhlen, und Rob hatte das Gefühl, daß er sich selbst sah.
Er suchte Mirdin und Karim auf. In ihren Augen las er die Antwort. Bevor er sich von ihnen zu einem Strohsack führen ließ, bestand er darauf, das Pestbuch und seine Aufzeichnungen zu holen und sie Mirdin zu übergeben.
»Wenn auch ihr beiden nicht überleben solltet, muß dies vom letzten so zurückgelassen werden, daß man es finden und an Ibn Sina schicken kann.«
»Ja, Jesse«, versprach Karim.
Rob war ruhig. Eine Last war von seinen Schultern genommen worden; das Schlimmste war eingetreten, aber er war auch von dem schrecklichen Gefängnis der Angst befreit.
»Einer von uns wird bei dir bleiben«, tröstete ihn der bekümmerte Mirdin.
»Nein, es gibt so viele hier, die euch brauchen.« Aber er spürte, daß sie in der Nähe waren und ihn beobachteten.
Er beschloß, jedes einzelne Stadium der Krankheit zu beobachten und es gut im Gedächtnis zu behalten. Doch schon als das hohe Fieber einsetzte und er so ungeheure Kopfschmerzen verspürte, daß die Haut seines ganzen Körpers empfindlich wurde, überwältigte ihn der Schlaf.
Am Morgen wurde er vom Lärm der Soldaten geweckt, die ihre schaurige Last vom Pesthaus zum Leichenwagen schleppten. Für ihn als Medizinstudenten war dies ein vertrauter Anblick, aber aus der Sicht eines Betroffenen sah es etwas anders aus. Sein Herz hämmerte, in seinen Ohren summte es. Die Schwere in all seinen Gliedern war schlimmer geworden, und in ihm tobte ein Feuerbrand.
»Wasser!«
Mirdin holte es eilig herbei, als Rob sich jedoch aufrichtete, um zu trinken, hielt er erschrocken den Atem an. Er zögerte, bevor er die Stelle betrachtete, wo er Schmerzen verspürte. Schließlich deckte er sie auf, und er und Mirdin wechselten einen angstvollen Blick. In seiner linken Armbeuge befand sich eine scheußliche, fahlpurpurfarbene Beule.
Er packte Mirdin am Handgelenk. »Ihr werdet sie nicht aufschneiden! Und ihr dürft sie nicht mit Ätzmitteln verbrennen. Versprichst du es mir?«
Mirdin riß seine Hand los und drückte Rob auf den Strohsack zurück. »Ich verspreche es dir, Jesse«, antwortete er sanft und eilte davon, um Karim zu holen.
Mirdin und Karim zogen seine Hand hinter seinen Kopf und banden sie an einen Pfosten1, so daß die Beule freilag. Sie erhitzten Rosenwasser und tränkten Lappen damit, um Kompressen aufzulegen, und sie wechselten die Umschläge gewissenhaft, wenn sie ausgekühlt waren.
Das Fieber stieg höher, als Rob es je, sei es als Erwachsener oder als Kind, erlebt hatte, und der ganze Schmerz in seinem Körper lief in der Beule zusammen, bis sein Geist der pausenlosen Qual nicht mehr gewachsen war und er phantasierte. Er suchte Kühle im Schatten eines Weizenfeldes und küßte Mary. Er berührte ihren Mund und liebkoste ihr Gesicht. Ihr rotes Haar fiel über ihn wie dunkler Nebel.
Er hörte Karim persisch und Mirdin hebräisch beten. Als Mirdin das >Schema Jisrael< sprach, betete Rob mit:
»Höre, o Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen lieben...«
Er wollte nicht mit den heiligen Worten der Juden auf den Lippen sterben und suchte nach einem christlichen Gebet. Das einzige, das ihm einfiel, war ein Kirchengesang der Priester aus seiner Kindheit.
Jesus Christus natus est.
Jesus Christus crucifixus est.
Jesus Christus sepultus est.
Amen.
Irgendwann hörte der Schmerz in seinem Arm so plötzlich auf, daß er die Erleichterung wie einen neuen Schmerz empfand. Er konnte sich keine falschen Hoffnungen erlauben und zwang sich, geduldig zu warten, bis jemand kam. Nach, wie ihm schien, übermäßig langer Zeit beugte sich Karim über ihn.
»Mirdin! Mirdin! Allah sei gepriesen! Die Beule ist aufgegangen!« Zwei lächelnde Gesichter schwebten über ihm. Das eine war schön und dunkel, das andere schlicht und gütig wie das eines Heiligen. »Ich werde einen Docht anlegen, damit sich der Eiter entleert«, sagte Mirdin, und eine Zeitlang waren die beiden zu beschäftigt, um ein Dankgebet sprechen zu können.
Es war, als hätte Rob das stürmische Meer durchquert und treibe jetzt in einem ruhigen, friedlichen Gewässer.
Seine Genesung erfolgte ebenso rasch und problemlos wie bei anderen Überlebenden. Er war schwach und zittrig, was eine natürliche Folge des hohen Fiebers war. Rob wurde unruhig, weil er sich nützlich machen wollte, doch seine Pfleger zwangen ihn,
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