Medicus 01 - Der Medicus
kommen.«
Sie hatten schon viele Menschen sterben sehen, aber als sie miterlebten, wie rasch die Krankheit von Ali Rashid Besitz ergriff, fühlten Rob, Karim und Mirdin die Schmerzen des Jungen mit. Von Zeit zu Zeit krümmte sich Ali in einem plötzlichen Anfall zusammen, als hätte ihn etwas in den Magen gebissen. Er erschauerte zuckend vor Qual, und sein Körper verkrampfte sich zu seltsam verkrümmten Stellungen. Sie wuschen ihn mit Essig, und am frühen Nachmittag faßten sie wieder Hoffnung, denn er fühlte sich beinahe kühl an. Aber es war, als hätte das Fieber sich gesammelt, und als ein neuerlicher Anfall erfolgte, war er noch heißer als zuvor, seine Lippen platzten auf, und er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war.
Inmitten all des Geschreis und Stöhnens ging das seine beinahe unter, doch die drei Kameraden vernahmen die schrecklichen Geräusche ganz deutlich, weil die Umstände sie sozusagen zu seiner Familie gemacht hatten.
Als die Nacht kam, lösten sie sich an seinem Bett ab. Der Junge lag kraftlos auf dem zerwühlten Lager, als Rob Mirdin vor Morgengrauen ablöste. Rob ergriff Alis Hände und spürte das Dahinschwinden seiner Lebenskräfte.
Als Karim Rob ablösen wollte, war Ali bereits verschieden. Nun konnten sie sich nicht mehr einreden, daß sie unempfindlich und nicht ansteckbar waren. Es wurde ihnen klar, daß bald einer von ihnen nachfolgen würde, und allmählich begriffen sie, was wahre Angst ist.
Sie begleiteten Alis Leiche zum Scheiterhaufen, und während er verbrannte, betete jeder auf seine Weise.
An diesem Morgen wurden sie aber auch Zeugen des Umschwungs: Es war offensichtlich, daß weniger Erkrankte ins Pesthaus gebracht wurden. Drei Tage danach berichtete der kelonter , der die Hoffnung in seiner Stimme kaum unterdrücken konnte, daß nur elf Personen gestorben waren.
Als Rob am Pesthaus vorbeiging, sah er eine große Schar toter und sterbender Ratten, und er bemerkte etwas Außergewöhnliches, als er sie genauer betrachtete: Die Nager hatten die Pest, denn fast alle von ihnen wiesen eine kleine, aber unübersehbare Beule aus. Er fand eine, die vor so kurzer Zeit gestorben war, daß ihr warmer Pelz noch vor Flöhen wimmelte. Er legte sie auf einen flachen Stein und schnitt sie mit einem Messer so fachgerecht auf, als blickte ihm al-Juzjani oder ein anderer Lehrer über die Schulter.
Aufzeichnungen der Medizinerabordnung aus Isfahan:
Geschrieben am 5. Tag des Monats Rabia II, im 413.Jahr nach der Hedschra:
Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere sind gestorben. Wir haben erfahren, daß Pferde, Kühe, Schafe, Kamele, Hunde, Katzen und Vögel in Ashan an der Seuche gestorben sind. Die Untersuchung von sechs an der Pest gestorbenen Ratten hat interessante Ergebnisse gezeitigt. Die äußeren Symptome sind die gleichen wie bei den menschlichen Opfern: starrende Augen, verkrampfte Muskeln, aufgerissener Mund, heraushängende, schwärzliche Zunge, bubo in der Leistengegend oder hinter dem Ohr.
Wenn man diese Ratten untersucht, wird klar, warum die chirurgische Entfernung der Beule zumeist keinen Erfolg bringt. Die krankhafte Veränderung besitzt meist tiefe, karottenartige Wurzeln, die nach der Entfernung des sichtbaren Teils der Beule im Opfer zurückbleiben und ihr Vernichtungswerk vollenden. Als ich die Bäuche der Ratten öffnete, stellte ich fest, daß die unteren Partien aller sechs Mägen und die oberen Gedärme durch grüne Galle vollkommen verfärbt waren. Die unteren Gedärme waren fleckig. Die Leber war bei allen sechs Nagern verschrumpelt, und bei vier Ratten waren auch die Herzen geschrumpft. Treten diese Veränderungen auch an den Organen menschlicher Opfer der Seuche auf?
Student Karim Harun sagt, Galen habe geschrieben, daß die innere Anatomie des Menschen der des Schweines und des Affen stark ähnle, sich aber von der der Ratte unterscheide. Obwohl wir die kausalen Zusammenhänge des Pesttodes beim Menschen nicht kennen, können wir doch sicher sein, daß sie im Inneren vonstatten gehen und daher unserer Beobachtung entzogen sind.
Jesse ben Benjamin, Student
Als Rob zwei Tage später im Pesthaus arbeitete, fühlte er ein Unbehagen, eine Schwere, eine Schwäche in den Knien, Schwierigkeiten beim Atmen und ein inneres Brennen, als hätte er zu viele Gewürze genossen. Dieses Gefühl hörte nicht auf und wurde im Lauf des Nachmittags noch stärker. Rob zwang sich, es nicht zu beachten, bis er einem Opfer ins Gesicht sah. Es war entzündet und
Weitere Kostenlose Bücher