Medicus 01 - Der Medicus
Cullen sah, wurde ihm schwer ums Herz. Er mußte nicht erst die Hände des Schafzüchters ergreifen, um zu wissen, daß er im Sterben lag. Auch Mary mußte es gewußt haben, aber sie sah ihn an, als erwarte sie von ihm, daß er ihren Vater mit der Berührung seiner Hände heilen würde.
In der Luft stand der Gestank von Cullens Eingeweiden. »Hat er Durchfall gehabt?«
Sie nickte müde und berichtete mit tonloser Stimme die Einzelheiten. Das Fieber hatte vor Wochen mit Erbrechen und schrecklichen Schmerzen im Unterleib begonnen. Mary hatte ihren Vater aufopfernd gepflegt.
Nach einiger Zeit war das Fieber zurückgegangen, und zu ihrer großen Erleichterung war es ihm besser gegangen. Einige Wochen lang hatte er ständig zugenommen und sich fast schon wieder erholt, aber dann waren die Symptome wiedergekommen, diesmal in noch schwererer Form.
Cullens Gesicht war blaß und eingesunken, seine Augen blickten trüb. Sein Puls war kaum zu ertasten. Ein Schüttelfrost hatte ihn vollkommen geschwächt, und er litt an Durchfall und ständigem Erbrechen.
»Die Diener dachten, es handle sich um die Pest. Sie sind weggelaufen«, erklärte Mary.
»Nein. Die Pest ist es nicht.« Das Erbrochene war nicht schwarz, und Cullen hatte keine Beulen. Ein geringer Trost. Cullens Unterbauch war auf der rechten Seite hart wie ein Brett. Als Rob darauf drückte, schrie Cullen auf, obgleich er in die tiefe Bewußtlosigkeit des Komas verfallen war.
Rob wußte, was es war. Als ihm die Krankheit das letzte Mal begegnet war, hatte er jongliert und gesungen, damit ein kleiner Junge ohne Angst sterben konnte.
»Eine Krankheit des Dickdarms. Manchmal nennt man sie auch Seitenkrankheit. Es ist ein Gift, das vom Darm ausgeht und sich im ganzen Körper verbreitet.«
»Wodurch ist es entstanden?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht kam es zu einem Knick oder einer Verstopfung im Darm.« Beide erkannten, wie trostlos seine Unwissenheit war.
Rob gab sich mit James Cullen große Mühe und versuchte alles, was Abhilfe versprach. Er verabreichte ihm Klistiere mit dem Tee wilder Kamillen, und als sie nicht halfen, versuchte er es mit Rhabarber und Abführsalzen.
Er machte heiße Umschläge auf den Unterbauch, doch da wußte er schon, daß es vergeblich war.
Er blieb am Bett des Schotten. Mary hätte er gern ins Nebenzimmer geschickt, damit sie die Ruhe fand, die sie sich bisher versagt hatte, aber er wußte, daß das Ende nahte, und fand, daß sie später noch genug Zeit zum Ausruhen haben würde.
Mitten in der Nacht machte Cullen eine leichte Bewegung, es war mehr ein Zucken. »Es ist ja schon gut, Dad«, flüsterte Mary und rieb seine Hände. Er glitt so still und leicht hinüber, daß eine Zeitlang weder sie noch Rob erkannten, daß ihr Vater nicht mehr am Leben war.
Sie hatte ein paar Tage vor seinem Tod aufgehört, ihn zu rasieren, weshalb nun der graue Bart abgenommen werden mußte. Rob kämmte das Haar und hielt den Leichnam in den Armen, während sie ihn wusch, ohne Tränen zu vergießen. »Ich bin froh, daß ich ihm den letzten Dienst erweisen kann. Bei meiner Mutter durfte ich seinerzeit nicht helfen«, sagte sie.
Cullen hatte eine lange Narbe auf dem rechten Oberschenkel. »Die hat er bei der Jagd auf einen wilden Eber im Dickicht abbekommen, als ich elf Jahre alt war. Er mußte den Winter im Haus verbringen. Wir haben zusammen eine Krippe für Weihnachten gebastelt, und damals habe ich ihn erst richtig kennengelernt.«
Nachdem ihr Vater zurechtgemacht war, holte Rob Wasser von der Quelle und wärmte es auf dem Feuer.
Während Mary badete, hob er ein Grab aus, was sich als höllisch schwierig erwies, denn der Boden war felsig, und geeignetes Werkzeug stand nicht zur Verfügung. Schließlich benutzte er Cullens Schwert, einen kräftigen, zugespitzten Ast und die Hände zum Graben. Als die Grube fertig war, machte er aus zwei Stöcken, die er mit dem Gürtel des Toten zusammenband, ein Kreuz.
Sie trug das schwarze Kleid, in dem er sie kennengelernt hatte. Er hatte Cullen in eine Wolldecke gewickelt, die sie von daheim mitgebracht hatten und die so schön und warm war, daß es ihm leid tat, sie ins Grab zu legen.
Eigentlich hätte er eine Seelenmesse lesen müssen, aber er konnte nicht einmal ein richtiges Totengebet sprechen, denn er war nicht sicher, ob er den lateinischen Text richtig aufsagen konnte. Doch fiel ihm ein Psalm ein, den ihn seine Mutter gelehrt hatte.
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er
Weitere Kostenlose Bücher