Medicus 02 - Der Schamane
Faust, damit er ihr nicht vom Finger glitt und verlorenging. Als sie auf ihre Plätze zurückkehrten, begann eben der zweite Akt. Rachel, die neben ihrer Mutter saß, nahm im Dunkeln deren Hand, legte sie auf den Ring und lachte lautlos, als Lillian überrascht den Mund aufriss. Und während sie sich von der herrlichen Musik wieder in den deutschen Wald versetzen ließ, dämmerte ihr, dass das Ereignis, das sie so gefürchtet hatte, für sie ein Tor zur Freiheit und eine angenehme Art, Macht auszuüben, sein konnte. Es war ein heißer Vormittag im Mai, als Rachel zur Schaffarm kam, und Shaman war verschwitzt und staubig, denn er hatte schon einige Stunden lang die Sense geschwungen und anschließend begonnen, das Gras zusammenzurechen. Rachel trug ein vertrautes, altes, graues Kleid, in dessen Achseln sich bereits dunkle Schweißflecken zeigten, ein leichtes, graues Häubchen, das er noch nicht kannte, und weiße Baumwollhandschuhe. Als sie ihn bat, sie nach Hause zu begleiten, ließ er bereitwillig den Rechen fallen. Eine Weile sprachen sie über die Schule, doch schon bald begann sie, von sich zu erzählen, von dem, was sich in ihrem Leben ändern würde. Sie lächelte ihn an, zog ihren linken Handschuh aus, zeigte ihm den Ring, und er begriff sofort, dass sie verlobt war. »Dann ziehst du also von hier weg?«
Sie nahm seine Hand. Noch Jahre später schämte er sich dafür, dass er in diesem Augenblick sonst nichts zu ihr gesagt hatte, ihr nicht alles Gute für ihr Leben gewünscht und ihr gestanden hatte, wieviel sie ihm bedeute, ihr nicht gedankt und Lebewohl gesagt hatte. Als er sich vor der Geigerschen Hofeinfahrt von ihr abwandte und sich auf den Heimweg machte, schmerzte seine Hand, so fest hatte sie sie gehalten.
Einen Tag nachdem die Geigers nach Chicago gefahren waren, wo in einer Synagoge unter einem Baldachin die Hochzeit stattfinden sollte, kam Rob J. nach Hause und wurde von Alex abgefangen, der sagte, er werde sich um das Pferd kümmern. »Schau mal nach! Mit Shaman stimmt was nicht.«
Kurz darauf stand Rob J. vor Shamans Tür und horchte auf das heisere, gutturale Schluchzen. Als er in Shamans Alter gewesen war, hatte er auch so geweint, weil seine Hündin böse und bissig geworden war und seine Mutter sie einem Häusler gegeben hatte, der alleine in den Hügeln lebte. Aber er wusste, dass sein Sohn um einen Menschen trauerte, nicht um ein Tier.
Er ging hinein und setzte sich aufs Bett. »Ich glaube, ich muss dir einiges erklären: Weißt du, es gibt nur mehr wenige Juden, und die meisten von ihnen sind umgeben von einer Menge Andersgläubiger. Deshalb glauben sie, nur überleben zu können, wenn sie wieder Juden heiraten.«
Shaman schien zuzuhören.
»Und da kommst du nicht in Frage. Du hast nie auch nur die geringste Chance gehabt.« Er strich seinem Sohn die feuchten Haare aus der Stirn und ließ die Hand auf Shamans Kopf ruhen. »Schau, sie ist eine Frau«, sagte er, »und du bist nur ein Junge.«
Im Sommer bot der Schulausschuss, der die Chance witterte, einen wegen seiner Jugend billigen, aber doch guten Lehrer zu bekommen, Shaman die Stelle in der Schule an. Aber Shaman lehnte ab. »Was willst du denn dann tun?« fragte sein Vater. »Ich weiß es nicht.«
»In Galesburg gibt es eine höhere Schule, das Knox College«, sagte Rob J. »Man sagt, ein sehr gutes Institut. Möchtest du weiter auf die Schule gehen? Und mal in eine andere Umgebung kommen?« Sein Sohn nickte. »Ich glaube schon«, sagte er. Und so verließ Shaman zwei Tage nach seinem fünfzehnten Geburtstag sein Zuhause.
Gewinner und Verlierer
Im September des Jahres 1858 wurde Reverend Joseph Hills Perkins zum Pfarrer der größten Baptistenkirche in Springfield berufen. Zu seiner wohlhabenden neuen Gemeinde gehörten der Gouverneur und einige Abgeordnete, und Mr. Perkins war noch mehr verblüfft über sein Glück als die Mitglieder seiner Kirche in Holden’s Crossing, die in seinem Aufstieg eine Bestätigung ihrer früheren Entscheidung sahen. Eine Zeitlang war Sarah mit der Organisation von Abschiedsessen und Abschiedsfeiern beschäftigt, und nachdem die Familie Perkins ausgezogen war, begann die Suche nach einem neuen Geistlichen. Als Kandidaten meldeten sich eine ganze Reihe von Gastpredigern, die es zu versorgen galt, und wieder gab es Streitereien und Diskussionen über die Vorzüge der einzelnen Bewerber.
Eine Zeitlang wurde ein Mann aus dem nördlichen Illinois favorisiert, ein leidenschaftlicher Prediger gegen
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