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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Poliklinik referierte Dr. Meigs über den Gebrauch des Stethoskops. Meigs hatte in Frankreich bei Ärzten studiert, die vom Erfinder dieses Instruments persönlich unterrichtet worden waren. Er erzählte den Studenten, dass eines Tages im Jahr 1816 ein Arzt namens Rene Laennec, weil er sein Ohr nicht an die Brust einer großbusigen und verlegenen Patientin legen wollte, ein Blatt Papier zusammenrollte und die so entstandene Röhre mit einem Faden zusammenband. Als Laennec das eine Ende der Röhre an die Brust der Patientin hielt und am anderen Ende horchte, stellte er überrascht fest, dass er auf diese Weise nicht schlechter hörte, sondern die Geräusche sogar verstärkt an sein Ohr drangen. Meigs berichtete weiter, dass Stethoskope bis vor kurzem nur einfache Holzröhren gewesen seien, durch die der Arzt nur mit einem Ohr hören konnte. Er selbst besaß jedoch eine modernere Version des Instruments, bestehend aus einer Röhre aus gewirkter Seide mit einer Gabelung und zwei Hörenden aus Elfenbein für beide Ohren. Bei den Patientenuntersuchungen nach den Vorlesungen benutzte Dr. Meigs ein Stethoskop mit einer zusätzlichen Röhre, so dass der Professor und ein Student gleichzeitig auf die Brustgeräusche eines Patienten lauschen konnten. Jeder Student erhielt Gelegenheit zum Horchen, doch als Shaman an die Reihe kam, sagte er dem Medizinprofessor, es habe keinen Zweck. »Ich würde nichts hören.«
    Dr. Meigs spitzte die Lippen. »Sie müssen es zumindest versuchen.« Umständlich erklärte er Shaman, wie er sich das Instrument ans Ohr zu halten habe. Aber Shaman konnte nur den Kopf schütteln. »Es tut mir leid«, sagte Professor Meigs.
    Eine Prüfung in medizinischer Praxis stand bevor. Dabei musste jeder Student einen Patienten mit einem Stethoskop untersuchen und eine Diagnose abgeben. Es war klar, dass Shaman diese Prüfung nicht würde bestehen können.
    An einem kalten Morgen brach er, dick eingepackt in Mantel, Schal und Handschuhe, zu einem längeren Spaziergang auf. An einer Ecke verkaufte ein Junge Zeitungen, die von Lincolns Amtseinsetzung berichteten. Tief in Gedanken versunken, ging Shaman zum Fluss hinunter und an den Piers entlang.
    Nach seiner Rückkehr ging er ins Krankenhaus und musterte das Pflegepersonal auf den Stationen. Es waren überwiegend Männer und viele davon Säufer, die es ins Krankenhaus verschlagen hatte, weil hier keine großen Ansprüche an sie gestellt wurden. Er konzentrierte sich auf die, die einen nüchternen und intelligenten Eindruck machten, und entschied sich schließlich für einen Mann namens Jim Halleck. Er wartete, bis der Pfleger einen Armvoll Holz in den Krankensaal getragen und neben dem dickbäuchigen Ofen auf den Boden geworfen hatte, und sprach ihn dann an. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, Mr. Halleck.«
    Am Prüfungsnachmittag waren sowohl Dr. McGowan wie Dr. Berwyn im allgemeinmedizinischen Behandlungsraum anwesend, was Shamans Nervosität noch erhöhte. Dr. Meigs prüfte die Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge. Shaman war der dritte, nach Allard und Bronson. Israel Allard hatte keine Probleme; seine Patientin war eine junge Frau mit einem Rückenleiden, deren Herztöne stark, regelmäßig und unkompliziert waren. Clark Bronson erhielt einen älteren, asthmatischen Mann zur Untersuchung. Stotternd und unsicher beschrieb er die Rasselgeräusche in der Brust des Patienten. Meigs musste ihm mehrere hinführende Fragen stellen, bis er die Antwort bekam, die er hören wollte, doch am Ende schien er zufrieden. »Mr. Cole?« Es war offensichtlich, dass er von Shaman eine Verweigerung der Teilnahme erwartete. Aber Shaman trat vor und nahm das einohrige Stethoskop entgegen. Als er zu Jim Halleck hinüberblickte, stand der Pfleger auf und kam zu ihm. Der Patient war ein sechzehnjähriger Junge von kräftiger Statur, der sich in einer Schreinerwerkstatt die Hand verletzt hatte. Halleck hielt das eine Ende des Stethoskops an die Brust des Jungen und legte sein Ohr ans andere Ende. Shaman nahm das Handgelenk des Patienten und fühlte dessen Puls unter seinen Fingerspitzen klopfen.
    »Der Herzschlag des Patienten ist normal und regelmäßig. Achtundsiebzig Schläge pro Minute«, sagte er nach einer Weile. Dann sah er den Pfleger fragend an, der nur leicht den Kopf schüttelte. »Keine Rasselgeräusche«, sagte Shaman.
    »Was soll denn dieses... Theater?« fragte Dr. Meigs. »Was hat Jim Halleck hier zu suchen?« »Mr. Halleck ersetzt mir meine Ohren, Sir«,

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