Medicus 02 - Der Schamane
Hören Sie sofort auf! Legen Sie den Haken weg!« befahl McGowan.
Der Student reagierte nicht, auch nicht, als der Professor laut in die Hände klatschte, und plötzlich wusste Dr. McGowan, wen er vor sich hatte. Er erhob sich, setzte sich dann aber wieder, denn er war neugierig, wie es weitergehen würde.
Der junge Mann schien in dem Behälter etwas zu suchen. Die meisten Leichenteile waren alt, viele waren schon von anderen Studenten aufgeschnitten worden. Dieser allgemeine Zustand der Verstümmelung und des Zerfalls war der Hauptgrund für das Entsetzen unter den Erstsemestern. Dr. McGowan sah, dass der Student eine Hand an die Oberfläche zog, dann ein ramponiertes Bein. Zum Schluss hob er einen Unterarm mit Hand heraus, der offensichtlich in einem besseren Zustand war als der Rest der Präparate. Dr. McGowan beobachtete, wie der Student seinen Fang mit dem Stock in die rechte obere Ecke des Tanks manövrierte und ihn dann mit einigen unansehnlicheren Stücken bedeckte. Er versteckte das Präparat!
Gleich darauf legte der Student den Stab wieder an seinen Platz und ging zu dem Tisch, um die Schärfe der Skalpelle zu prüfen. Als er eins gefunden hatte, das ihm zusagte, rückte er es leicht von den anderen ab und ging dann zu seinem Platz.
Dr. McGowan beschloss, ihn nicht zu beachten, und schrieb die nächsten zehn Minuten weiter in seine Akten. Nach und nach kamen die anderen Studenten ins Labor und gingen schnurstracks zu ihren Plätzen. Einige waren bereits blass, denn die Gerüche im Saal förderten Ängste und Zwangsvorstellungen.
Pünktlich zur vollen Stunde legte Dr. McGowan die Feder weg und stellte sich vor den Tisch. »Gentlemen«, sagte er. Sobald im Saal Stille herrschte, stellte er sich vor. »In diesem Kurs studieren wir die Toten, um mehr über die Lebenden zu erfahren und ihnen helfen zu können. Die ersten Berichte über solche Studien reichen zurück bis zu den frühen Ägyptern. Sie sezierten die Leichen der Unglücklichen, die als Menschenopfer getötet wurden. Doch die eigentlichen Väter der anatomischen Wissenschaft sind die alten Griechen. In Alexandria gab es eine berühmte medizinische Akademie, in der Herophilus von Chalcedon die menschlichen Organe und Eingeweide erforschte. Er gab dem Calamus scriptorius und dem Duodenum ihre Namen.« Dr. McGowan war sich bewusst, dass der junge Mann auf dem Mittelplatz der ersten Reihe seinen Mund nicht aus den Augen ließ, er hing förmlich an seinen Lippen. In schwungvoller Rede berichtete der Professor vom Verschwinden der Anatomie in der abergläubischen Finsternis des Mittelalters und von ihrer Renaissance im siebzehnten Jahrhundert. Der Schlussteil seiner Vorlesung handelte davon, dass der Wissenschaftler einen Körper, den die Seele verlassen hat, ohne Furcht, aber mit Achtung behandeln müsse. »In meinen Studententagen in Schottland pflegte mein Professor den Körper nach dem Tod mit einem Haus zu vergleichen, dessen Besitzer ausgezogen ist. Er sagte, die Leiche müsse mit Sorgfalt und Würde behandelt werden, aus Respekt vor der Seele, die in diesem Haus gewohnt hat.« Dr. McGowan ärgerte sich, als er sah, dass der Junge in der ersten Reihe lächelte. Dann befahl er den Studenten, sich je ein Präparat aus dem Behälter und ein Skalpell zu nehmen, das anatomische Objekt zu sezieren und eine Zeichnung davon anzufertigen, die am Ende der Stunde abgegeben werden solle. Wie immer in der ersten Stunde gab es einen Augenblick des Zögerns, in dem die Studenten ihren Widerwillen überwinden mussten. Aber auch jetzt machte der junge Mann, der als erster den Hörsaal betreten hatte, den Anfang, denn er stand sofort auf und holte sich das beiseite geschaffte Präparat aus dem Behälter sowie das scharfe, leicht abgerückte Skalpell vom Tisch. Während die anderen noch in der Lake herumstocherten, richtete er sich bereits an dem Seziertisch mit dem besten Licht ein. Dr. McGowan wusste sehr gut, welche Belastung diese erste Anatomiestunde für die Studenten darstellte. Er war an den süßlichen Geruch gewöhnt, der aus dem Behälter hochstieg, aber er kannte auch dessen Wirkung auf Uneingeweihte. Einige der Studenten standen vor einer fast unlösbaren Aufgabe, denn viele Präparate waren in einem so schlechten Zustand, dass sie kaum gut seziert und präzise gezeichnet werden konnten, und er zog das mit in Betracht. Die Übung war als Disziplinarmaßnahme gedacht gleich der Feuertaufe frischer Soldaten. Es war eine Probe ihrer Fähigkeit,
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