Medicus 02 - Der Schamane
Phantasie - auf das Studium der Medizin. Cooke sagte mit unverhülltem Neid, dass Robert J. Cole der geborene Medizinstudent sei, und Shaman widersprach ihm nicht, hatte er doch sein ganzes Leben auf etwas gewartet, das er hier in Cincinnati gefunden hatte. Er gewöhnte es sich an, im Obduktionssaal vorbeizuschauen, sooft er eine freie Stunde hatte, manchmal allein, doch öfters mit Cooke oder Billy Henned, um ihnen bei der Verbesserung ihrer Seziertechnik zu helfen oder ihnen etwas zu demonstrieren, das sie in einem Buch gelesen oder in einer Vorlesung gehört hatten. Schon bald nach der ersten Anatomiestunde hatte Dr. McGowan Shaman gebeten, Studenten, die Schwierigkeiten hatten, zu helfen. Shaman wusste, dass er auch in den anderen Fächern exzellente Noten hatte, und inzwischen nickte ihm sogar Dr. Meigs freundlich zu, wenn sie sich auf dem Gang begegneten. Die Leute hatten sich an sein Anderssein gewöhnt. Manchmal kam es vor, dass er, wenn er sich während einer Vorlesung oder im Labor stark konzentrierte, nach alter Gewohnheit vor sich hinzusummen begann, ohne es zu merken. Bei einer solchen Gelegenheit hatte Dr. Berwyn einmal seinen Vortrag unterbrochen und gesagt: »Hören Sie auf zu summen, Mr. Cole!« Anfangs hatten die anderen Studenten noch gekichert, doch sie gewöhnten es sich bald an, ihn am Arm zu berühren oder ihn scharf anzusehen, damit er verstummte. Es machte ihm Freude, alleine durch die Krankensäle zu gehen. Eines Tages beklagte sich eine Patientin, dass er an ihr vorbeigegangen sei, ohne sie zu beachten, obwohl sie wiederholt seinen Namen gerufen habe. Um sich selbst zu beweisen, dass seine Taubheit den Patienten nicht unbedingt zum Nachteil gereichen musste, gewöhnte er es sich nach diesem Vorwurf an, bei jedem Bett kurz stehenzubleiben, die Hände des Patienten zu ergreifen und ein paar tröstende Worte zu sagen. Das drohende Gespenst der Probezeit hatte er längst hinter sich gelassen, als Dr. McGowan ihm eines Tages für die Sommerferien im Juli und August eine Stelle im Krankenhaus anbot. McGowan gestand ihm freimütig, dass er und Dr. Berwyn nahe daran gewesen seien, um seine Dienste zu wetteifern, dann aber zu dem Entschluss gekommen seien, sich ihn zu teilen. »Sie würden den Sommer über für uns beide arbeiten. Vormittags erledigen Sie für Berwyn im Operationssaal das Grobe, und nachmittags helfen Sie mir, seine Fehler zu sezieren.« Es war eine großartige Chance, das sah Shaman sofort, und mit dem bescheidenen Gehalt würde er die Erhöhung der Studiengebühren ausgleichen können. »Ich würde es sehr gern tun«, sagte er zu Dr. McGowan. »Aber mein Vater erwartet, dass ich diesen Sommer nach Hause komme und auf der Farm helfe. Ich muss ihm erst schreiben und ihn um Erlaubnis bitten.«
Barney McGowan lächelte. »Ach ja, die Farm«, sagte er leicht abschätzig. »Ich prophezeie Ihnen, junger Mann, dass Sie in Zukunft kaum noch zur Farmarbeit kommen werden. Soweit ich weiß, ist Ihr Vater Landarzt in Illinois, nicht wahr? Ich wollte Sie immer schon einmal danach fragen. An der Universität in Edinburgh gab es einige Jahre vor mir einen Arzt, der genauso hieß wie Ihr Vater.«
»Ja, das war mein Vater. Er hat mir die gleiche Anekdote erzählt, die Sie in der ersten Anatomievorlesung über Sir William Fergusson erzählt haben, seine Beschreibung eines Leichnams als Haus, aus dem der Bewohner ausgezogen ist.«
»Ich erinnere mich, dass Sie gelächelt haben, als ich die Geschichte erzählte. Jetzt verstehe ich, warum.« McGowan sah ihn nachdenklich an. »Wissen Sie... äh... warum Ihr Vater Schottland verlassen hat?« Shaman merkte, dass Dr. McGowan versuchte, taktvoll zu sein. »Ja. Er hat es mir erzählt. Er hatte politische Schwierigkeiten und wäre beinahe nach Australien deportiert worden.«
»Ich erinnere mich.« Dr. McGowan schüttelte den Kopf. »Er wurde uns immer als warnendes Beispiel vorgehalten. Jeder am University College wusste von ihm. Er war Sir Fergussons Protege, mit einer glänzenden Zukunft vor sich. Und jetzt ist er Landarzt. Wie schade!« »Das ist überhaupt nicht schade!« Shaman bekämpfte den aufsteigenden Ärger und schaffte am Ende sogar ein Lächeln. »Mein Vater ist ein großartiger Mensch«, sagte er und wurde sich überrascht klar, dass das wirklich stimmte. Er erzählte Barney McGowan von Rob J. und seiner Tätigkeit unter Oliver Wendell Holmes in Boston und von den Holzfällern und Schienenlegern, die er während seiner Wanderschaft durch den
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