Medicus 02 - Der Schamane
Publikum, wie Männern Köpfe und Gliedmaßen abgerissen wurden und Eingeweide aus ihren Bäuchen quollen. Den tausendfachen Tod. Einige Zivilisten sanken in Ohnmacht, andere weinten. Alle versuchten zu fliehen, aber eine explodierende Mine jagte einen Wagen in die Luft und tötete das vorgespannte Pferd, wodurch der Hauptzufahrtsweg blockiert wurde. Die meisten der Ambulanzfahrer waren, ob nüchtern oder betrunken, mit leerem Wagen davongerast. Die wenigen, die versuchten, Verwundete zu bergen, sahen sich in einem Meer von Zivilfahrzeugen und scheuenden Pferden gefangen. Die Schwerverletzten blieben auf dem Schlachtfeld liegen und schrien, bis sie starben. Manche der Ambulanzfahrzeuge brauchten mehrere Tage, um mit ihrer Fracht nach Washington zu kommen. In Holden’s Crossing goss der Sieg der Konföderierten Wasser auf die Mühle der Südstaatensympathisanten. Rob J. war über die sträfliche Vernachlässigung der Opfer mehr bestürzt als über die Niederlage. Im Frühherbst wurde die Bilanz der Schlacht am Bull Run Creek bekannt: fast fünftausend Tote, Verwundete oder Vermisste, wobei so manches Leben durch mangelnde Versorgung ausgelöscht worden war. Als Rob J. und Jay Geiger eines Abends zusammen in der Coleschen Küche saßen, vermieden sie es tunlichst, über die Schlacht selbst zu sprechen. Sie unterhielten sich über die Neuigkeit, dass Lillians Cousin Judah Benjamin zum Kriegsminister der Konföderierten berufen worden sei, und sie waren völlig einer Meinung, dass es grausam und unklug von einer Armee sei, sich nicht um ihre Verwundeten zu kümmern.
»So schwierig das auch ist«, sagte Jay, »wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Krieg unsere Freundschaft zerstört.«
»Nein. Natürlich nicht!« Der Krieg wird sie vielleicht nicht zerstören, dachte Rob J., aber strapaziert und beeinträchtigt ist sie bereits. Er erschrak, als Geiger ihn beim Abschied umarmte und fest an sich drückte. »Deine Familie steht mir ebenso nahe wie meine eigene«, sagte Jay mit erstickter Stimme. »Ich würde für ihr Wohlbefinden alles tun.« Am nächsten Tag, als Lillian mit trockenen Augen in der Küche der Coles saß und ihnen erzählte, dass ihr Mann bei Tagesanbruch in Richtung Süden aufgebrochen sei, um sich in den Dienst der Konföderierten zu stellen, verstand er Jays Abschiedsstimmung.
Es kam Rob J. so vor, als habe die ganze Welt das Grau der Konföderiertenuniform angelegt. Obwohl er sein möglichstes tat, hustete sich Julia Blackmer, die Frau des Pfarrers, zu Tode, noch ehe die Winterluft dünn und kalt wurde. Sydney Blackmer weinte, als er auf dem Friedhof die Gebete sprach, und als die erste Schaufel Erde auf Julias Kiefernsarg fiel, presste Sarah Rob J.s Hand so fest, dass es schmerzte. Die Mitglieder der Gemeinde vereinbarten, ihren Seelsorger zu unterstützen, und Sarah teilte die Frauen so ein, dass Mr. Blackmer stets mitfühlende Gesellschaft oder eine warme Mahlzeit hatte. Rob J. meinte, dass der Reverend vielleicht ein bisschen Ruhe in seinem Gram haben solle, doch der Witwer schien dankbar für die Anteilnahme. Vor Weihnachten erzählte Mater Miriam Ferocia Rob J. von dem Brief einer Frankfurter Anwaltskanzlei, in dem ihr der Tod ihres Vaters, Ernst Brotknecht, mitgeteilt worden sei. Er habe testamentarisch den Verkauf des Frankfurter Wagenbauwerks und der Münchner Kutschenfabrik verfügt, und nun warte eine beträchtliche Summe auf seine Tochter, die frühere Andrea Brotknecht.
Rob J. sprach ihr zum Tod ihres Vaters, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, sein Beileid aus. Dann sagte er: »Meine Güte! Mutter Oberin - dann sind Sie ja reich!«
»Nein«, antwortete sie ruhig. Sie habe versprochen, all ihre weltlichen Güter der heiligen Mutter Kirche zu überlassen, als sie den Schleier nahm, und bereits die Papiere unterzeichnet, mit denen sie die Erbschaft in die Hände ihres Erzbischofs lege.
Rob J. verstand die Welt nicht mehr. Im Laufe der Jahre, in denen er mit angesehen hatte, wie die Nonnen darbten, hatte er dem Konvent immer wieder kleine Geschenke gemacht. Die Härte ihres Daseins, die strenge Rationierung ihres Essens und das Fehlen aller Dinge, die auch nur im entferntesten als Luxus angesehen werden konnten, hatten ihn zutiefst gedauert. »Ein bisschen Geld würde den Schwestern Ihres Ordens eine Verbesserung der Lebensumstände bescheren. Wenn Sie die Erbschaft schon nicht selbst annehmen konnten, hätten Sie wenigstens an Ihre Nonnen denken können!«
Doch sie ließ den
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