Medicus 02 - Der Schamane
und Monds ließ in Shaman verschüttete Gefühle neu erwachen. Er las immer wieder den Bericht seines Vaters über Makwa-ikwas Autopsie, weil er nichts übersehen wollte, und er versuchte dann festzustellen, ob seinem Vater bei der Untersuchung etwas entgangen sein könnte und ob er selbst etwas anders gemacht hätte, wenn er die Leiche seziert hätte.
In dem Band, der das Jahr 1853 umfasste, las er Verblüffendes. In der Schreibtischschublade seines Vaters fand er den Schlüssel zu dem verschlossenen Schuppen hinter der Scheune, und er ging hin, öffnete das große Schloss und trat ein. Hundertemal war er schon hier gewesen. Auf Wandregalen standen Medikamente, Flaschen mit Toniken, Tinkturen, und von den Balken hingen Bündel getrockneter Kräuter herab: Makwa-ikwas Nachlass. Da stand der alte Holzofen, nicht weit entfernt von dem hölzernen Seziertisch, wo er seinem Vater so viele Male assistiert hatte. Nierenschalen und Eimer hingen an der Wand. An einem Nagel, der in einen Pfosten eingeschlagen war, entdeckte er den alten, braunen Pullover seines Vaters.
Der Schuppen war jahrelang nicht saubergemacht worden. Alles war voller Spinnweben, doch Shaman ließ sich nicht stören. Er suchte die Stelle an der Nordwand, die er für die richtige hielt, und zog an dem Brett. Es rührte sich nicht. In der Scheune gab es eine Brechstange, aber es war unnötig, sie zu holen, denn als er an dem nächsten Brett zog, ließ es sich ganz leicht wegnehmen. Ebenso die angrenzenden. Es war, als blickte man in den Eingang zu einer Höhle. Das einzige Tageslicht im Schuppen kam durch ein kleines, verstaubtes Fenster. Shaman öffnete die Schuppentür so weit wie möglich, doch es half nicht viel, und so nahm er die Laterne herunter, die noch ein wenig Öl enthielt, und zündete sie an. Gleich darauf erhellte flackernder Lichtschein die Nische.
Shaman kroch hinein. Sein Vater hatte sie sauber hinterlassen. Sie enthielt noch immer eine Schüssel, eine Tasse und eine alte, ordentlich zusammengefaltete Decke, die Shaman noch aus seiner Kindheit kannte Der Raum war klein, und Shaman hatte die Körpergröße seines Vaters. Bestimmt waren einige der entflohenen Sklaven auch große Menschen gewesen.
Er blies die Laterne aus, und Dunkelheit umfing ihn. Er stellte sich vor, dass der Eingang verschlossen war und die Welt draußen ein blutrünstiger Hund, der ihn jagte. Er hatte also die Wahl, ein Arbeitstier zu sein oder ein gejagtes Tier.
Als er nach einer Weile wieder hinauskroch, nahm er den Pullover vom Nagel und zog ihn an, obwohl es warm war. Das Kleidungsstück hatte noch den Geruch seines Vaters an sich.
All die Zeit, dachte er, all die Jahre, während der er und Alex in dem Haus gelebt, gestritten und krakeelt hatten und in ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen aufgegangen waren, hatte sein Vater dieses Geheimnis mit sich herumgetragen, und er war ganz allein mit ihm fertig geworden. Shaman hatte plötzlich den übermächtig starken Wunsch, mit Rob J. zu sprechen, seine Erlebnisse zu teilen, ihm Fragen zu stellen und ihm seine Liebe und Bewunderung zu zeigen. In seinem Zimmer im Krankenhaus hatte er geweint, als er die telegraphische Nachricht vom Tod des Vaters erhielt. Doch auf der Bahnfahrt war er teilnahmslos, während und nach den Beerdigung dann seiner Mutter zuliebe beherrscht gewesen. Jetzt lehnte er sich an die Holzwand neben der Nische und glitt an den Brettern hinunter, bis er wie ein Kind auf dem Erdboden saß. Und wie ein verlassenes Kind überließ er sich der gramvollen Gewissheit, dass die Stille, die ihn umgab, in Zukunft noch einsamer sein würde als früher.
Unverhofftes Wiedersehen
Sie hatten Glück: Es gab keinen weiteren Typhus-Fall in Holden’s Crossing. Zwei Wochen waren vergangen, doch es hatten sich keine roten Flecken auf Tilda Snows Körper gezeigt. Ihr Fieber war schnell gesunken, ohne Durchfall oder auch nur die Andeutung einer Blutung, und als Shaman eines Tages erneut zur Snow-Farm kam, fütterte sie schon wieder Schweine. »Es war eine schlimme Grippe«, sagte er zu ihrem Mann. »Aber sie hat sie überwunden.« Wenn Snow ihn jetzt hätte bezahlen wollen, wäre er nicht abgeneigt gewesen, doch der Farmer gab ihm statt des Geldes zwei Gänse, die er eigens für Shaman geschlachtet, gerupft und ausgenommen hatte. »Ich habe einen alten Leistenbruch, der mir Ärger macht«, sagte Snow.
»Ich möchte aber nichts dran machen lassen, bis ich das erste Heu eingefahren habe.«
»Und wann wird das
Weitere Kostenlose Bücher