Medicus 02 - Der Schamane
zukommen. »Oh, dem Fuß geht’s gut«, sagte er fröhlich. »Ihr Vater hat Tilda den Fuß festhalten lassen, während er die Zehe mit dem Messer aufschnitt. Ich hab’ sie in Salzlösung gebadet, wie er es mir empfohlen hat, um den Dreck rauszuziehen. Aber es passt gut, dass Sie vorbeikommen: Tilda fühlt sich nicht wohl.«
Mrs. Snow fütterte gerade die Hühner, doch schien sie sich kaum auf den Beinen halten zu können. Das Gesicht der großen, schweren Frau war hochrot, und sie gab zu, dass ihr »ein bisschen warm« sei. Shaman erkannte sofort, dass sie hohes Fieber hatte, und spürte ihre Erleichterung, als er ihr Bettruhe verordnete, obwohl sie den ganzen Weg zum Haus protestierte. Sie sagte, sie habe seit ein, zwei Tagen einen dumpfen Schmerz im Rücken und keinen Appetit. Shaman war alarmiert, zwang sich jedoch zu einem gelassenen Ton und befahl ihr, sich hinzulegen - Mr. Snow könne die Hühner und die anderen Tiere versorgen. Er ließ eine Flasche mit Tropfen da und versprach, am nächsten Tag wieder vorbeizukommen. Snow versuchte, ihm ein Honorar aufzudrängen, doch Shaman blieb fest: »Keine Bezahlung! Ich bin nicht Ihr Hausarzt. Ich komme ja nur so vorbei.« Es war ihm nicht möglich, Geld für die Behandlung einer Krankheit anzunehmen, die sich die Frau vielleicht von seinem Vater geholt hatte. Die letzte Station an diesem Tag sollte der Konvent der Franziskanerinnen sein. Mater Miriam Ferocia freute sich sichtlich, ihn zu sehen. Als sie ihm Platz anbot, entschied er sich für den Holzstuhl mit der geraden Rückenlehne, auf dem er schon gesessen war, als er seinen Vater hierher begleitete. »So«, sagte sie. »Sie sehen sich also in der alten Heimat um.«
»Heute tue ich mehr als das. Ich versuche festzustellen, ob mein Vater irgend jemanden in Holden’s Crossing mit Typhus angesteckt hat. Haben Sie oder eine Ihrer Schwestern irgendwelche Symptome?« Mutter Miriam schüttelte den Kopf. »Nein - und ich rechne auch nicht damit. Wir sind daran gewöhnt, Menschen mit allen möglichen Krankheiten zu pflegen - wie Ihr Vater. Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso.« »Ja, ich denke schon.«
»Ich glaube, Gott hält seine schützende Hand über Menschen wie uns.«
Shaman lächelte. »Ich hoffe, Sie haben recht.«
»Hatten Sie es in Ihrem Krankenhaus oft mit Typhus zu tun?«
»Nicht gerade selten. Patienten mit ansteckenden Krankheiten sind dort getrennt von den übrigen in einem anderen Gebäude untergebracht.«
»Sehr vernünftig. Erzählen Sie mir von Ihrem Krankenhaus!« Er kam der Aufforderung nach und begann mit dem Pflegepersonal, weil er meinte, dass sie das besonders interessiere. Dann ging er zum internistischen, zum chirurgischen Stab und zu den Pathologen über. Sie stellte intelligente, gezielte Fragen. Er berichtete ihr von seiner Arbeit mit dem Chirurgen Dr. Berwyn und dem Pathologen Barnett McGowan.
»Demnach haben Sie eine gute Ausbildung genossen und viel Erfahrung gesammelt. Und was jetzt? Werden Sie in Cincinnati bleiben?« Er erzählte ihr, dass Alma ihn dasselbe gefragt habe und wie unangenehm es ihm gewesen sei.
Mater Miriam sah ihn neugierig an. »Und warum fällt Ihnen die Antwort so schwer?«
»Als ich noch hier lebte, fühlte ich mich immer unvollkommen: ein tauber Junge, der unter Hörenden aufwuchs. Ich liebte und bewunderte meinen Vater und wollte sein wie er. Mein größter Wunsch war, Arzt zu werden, und so arbeitete und kämpfte ich für dieses Ziel, obwohl alle - auch mein Vater - meinten, ich könne es nicht schaffen. Der Traum, Arzt zu werden, hat sich erfüllt, ja, mehr noch, viel mehr. Nun bin ich nicht mehr unvollkommen, und ich bin wieder an dem Ort, den ich liebe. Für mich wird Holden’s Crossing immer nur einem Arzt gehören - meinem Vater.«
Mater Miriam nickte. »Aber er ist nicht mehr da, Shaman.« Er schwieg. Sein Herz klopfte so heftig, als erfahre er diese traurige Nachricht zum erstenmal.
»Ich hätte eine Bitte.« Sie deutete auf den Ledersessel. »Setzen Sie sich dorthin, wo er immer saß.« Widerstrebend stand er auf und gehorchte. Sie wartete einen Augenblick. »Der Sessel ist sicher nicht so unbequem wie der Holzstuhl.«
»Er ist sehr bequem«, bestätigte er mit fester Stimme. »Und Sie passen gut hinein.« Sie lächelte leicht und gab ihm dann einen Rat, der fast wörtlich wie der von Gus Schroeder lautete: »Denken Sie darüber nach!« Auf dem Heimweg hielt er bei Howard an und kaufte einen Krug Whiskey. »Tut mir leid wegen Ihrem Vater«,
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