Medicus 02 - Der Schamane
murmelte Julian Howard unbehaglich. Shaman nickte. Mehr hatten sie sich nicht zu sagen. Mollie Howard meinte, dass Mal und Alex es wohl geschafft hätten, in die Konföderierten-Army aufgenommen zu werden, denn sie hätten nichts von Mal gehört, seit die Jungen weggelaufen seien. »Wenn sie irgendwo auf dieser Seite der Front wären, hätte doch einer von beiden wohl mal ‘n Wort hören lassen.« Und Shaman sagte, er teile diese Ansicht.
Nach dem Abendessen brachte er den Whiskey zu Alden in die Hütte. Als Friedensangebot. Er goss sich sogar selbst etwas in eines der Marmeladengläser, weil er wusste, dass Alden nicht gern allein trank, wenn jemand bei ihm war. Er wartete, bis Alden ein paar ordentliche Schlucke genommen hatte, bevor er die Sprache auf die Farm brachte. »Warum haben du und Doug Penfield in diesem Jahr so große Schwierigkeiten, mit der Arbeit zu Rande zu kommen?« Die Antwort sprudelte nur so heraus: »Das hat sich schon seit langem angekündigt. Wir verkaufen kaum mal ein Tier, höchstens zu Ostern ein oder zwei Frühlingslämmer an einen Nachbarn. Und so wird die Herde jedes Jahr größer, und es sind immer mehr Tiere zu waschen und zu scheren und immer mehr Weiden einzuzäunen. Ich wollte ja mit deinem Pa drüber reden, bevor er zur Army ging, aber er wollte einfach nicht einsehen, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Dann reden jetzt wir darüber. Was bekommen wir für ein Pfund Wolle?« fragte Shaman und zog sein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.
Fast eine Stunde lang sprachen sie über Wollqualitäten und Preise, stellten Vermutungen an, wie sich der Markt nach dem Krieg entwickeln werde, und errechneten, wieviel Platz jedes Schaf als Lebensraum braucht, sowie die nötige Arbeitszeit und die Kosten pro Tag. Als sie fertig waren, hatte Shaman sein ganzes Notizbuch vollgeschrieben. Alden war besänftigt. »Wenn du mir versprechen könntest, dass Alex bald nach Hause kommt, sähe die Sache anders aus. Der Junge ist ein Schwerarbeiter. Aber wie die Dinge liegen, kann er irgendwo da unten gefallen sein. Du weißt, dass das so ist, Shaman.«
»Ja, so ist es. Aber bis ich das Gegenteil höre, ist er für mich am Leben.«
»Ja, klar. Aber du solltest nicht mit ihm rechnen, wenn du deine Pläne machst.«
Shaman seufzte und stand auf. »Ich sage dir was, Alden: Ich muss morgen Nachmittag wieder Hausbesuche machen, aber vormittags werde ich Osagedorn anpflanzen.«
Am nächsten Morgen ging er schon ganz früh hinaus. Es war ein guter Tag, um im Freien zu arbeiten, trocken und windig, mit einem hohen Himmel, über den pralle Schönwetterwolken segelten. Er hatte sich schon lange nicht mehr körperlich betätigt und spürte bereits Muskelverspannungen, bevor das erste Loch fertig ausgehoben war. Er hatte erst drei Pflanzen gesetzt, als seine Mutter auf Boss angeritten kam, dicht gefolgt von einem schwedischen Rote-Bete-Farmer namens Par Swanson, den Shaman flüchtig kannte.
»Es geht um meine Tochter!« rief der Mann schon von weitem. »Ich glaube, sie hat sich das Genick gebrochen.« Shaman schwang sich in den Sattel. Der Ritt zu den Swansons dauerte etwa zehn Minuten. Nach der kurzen Beschreibung fürchtete er sich vor dem, was ihn erwarten würde, doch dann stellte sich heraus, dass das Mädchen lebte, auch wenn es schlimme Schmerzen hatte. Selma Swanson war ein Blondschopf von noch nicht drei Jahren. Sie fuhr mit Vorliebe auf dem Jauchefass mit. An diesem Morgen hatte das Gespann des Fuhrwerks einen großen Habicht aufgescheucht, der auf dem Feld saß und eine Maus vertilgte. Als er plötzlich aufflog, scheuten die Pferde, worauf Selma das Gleichgewicht verlor und vom Kutschbock stürzte. Ihr Vater, der Mühe hatte, die Pferde wieder unter Kontrolle zu bringen, sah, dass seine Tochter im Fallen gegen das Jauchefass schlug. »Für mich sah es aus, als hätte sie sich das Genick gebrochen«, sagte er.
Das kleine Mädchen presste seinen linken Arm mit der rechten Hand an die Brust. Ihre linke Schulter war vorgeschoben. »Nein«, sagte Shaman, nachdem er sie untersucht hatte. »Es ist das Schlüsselbein.« »Gebrochen?« fragte die Mutter.
»Nun, vielleicht ein wenig angeknackst. Machen Sie sich keine Sorgen! Es wäre ernster, wenn das Ihnen oder Ihrem Mann passiert wäre. Aber in diesem Alter biegen sich die Knochen noch wie grüne Zweige und heilen ganz schnell.«
Das Schlüsselbein war nicht weit von der Stelle entfernt verletzt, wo es mit dem Schulterblatt und dem Brustbein
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