Medicus 02 - Der Schamane
fini. Bald kommt die Kälte.«
Rachel blieb zwölf Fahrten lang auf dem roten Pferd sitzen. Der Franzose wurde allmählich ungeduldig. Shaman gab ihm zum Fahrpreis ein großzügiges Trinkgeld, und der Mann schenkte Rachel einen weißen Glaskrug, auf dem ein gemalter Rosenstrauch prangte. Windzerzaust und lachend kehrten sie ins Hotel zurück. »Ich fand es herrlich«, sagte sie vor der Tür zu Zimmer Nummer 306. »Ich auch.« Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, hatte sie ihn leicht auf die Wange geküsst und die Tür hinter sich geschlossen. Eine Stunde lang lag er angekleidet auf seinem Bett. Dann stand er auf und ging in den dritten Stock hinunter. Es dauerte ein Weilchen, bis sie auf sein Klopfen reagierte. Schon hatte ihn der Mut verlassen, und er wollte gerade wieder gehen, als die Tür endlich aufging und Rachel im Nachthemd vor ihm stand. Lange sahen sie einander an. »Kommst du rein, oder soll ich rauskommen?« fragte sie schließlich. Er sah, dass sie nervös war.
Er trat ins Zimmer und schloss die Tür. »Rachel...« begann er.
Doch sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Als ich ein junges Mädchen war, ging ich oft den Langen Weg und machte an einer Stelle halt, wo der Wald sich bis zum Fluss hinunterzieht, direkt an der Grenze zwischen unserem und eurem Land. Ich sagte mir, du würdest schnell erwachsen werden und dort ein Haus bauen und mich davor bewahren, einen alten Mann mit schlechten Zähnen heiraten zu müssen. Ich stellte mir unsere Kinder vor, einen Sohn wie dich und drei Töchter, mit denen du liebevoll und geduldig umgehen und ihnen erlauben würdest, die Schule zu besuchen und so lange zu Hause zu wohnen, bis sie bereit wären, zu gehen.« »Ich habe dich immer geliebt.«
»Ich weiß«, antwortete sie, und als er sie küsste, fingerte sie an seinen Hemdknöpfen herum. Sie ließen die Lampe brennen, damit sie einander sehen und miteinander sprechen konnten. Nachdem sie sich geliebt hatten, schlief sie ein wie eine zufriedene Katze, und er lag da und sah ihr beim Atmen zu. Nach einer Weile wachte sie wieder auf, und ihre Augen leuchteten, als sie ihn sah. »Auch als ich Joes Frau war... sogar als ich schon Mutter war, träumte ich von dir.«
»Ich habe das irgendwie gespürt. Und das hat alles noch schlimmer gemacht.«
»Ich fürchte mich, Shaman.«
»Wovor?«
»Jahrelang habe ich die Hoffnung auf dich tief in mir begraben... Weißt du, was eine orthodoxe Familie tut, wenn ein Mitglied jemanden anderen Glaubens heiratet? Sie verhängen die Spiegel mit Tüchern, ziehen Trauerkleidung an und sprechen die Totengebete.«
»Keine Angst! Wir werden mit ihnen reden, bis sie es verstehen.«
»Und wenn sie es nie verstehen?«
Auch er fühlte Unbehagen und Furcht, doch er musste sich mit dieser Frage auseinandersetzen. »Wenn das der Fall ist, wirst du eine Entscheidung treffen müssen.« Sie sahen einander an.
»Keine Resignation mehr - bei uns beiden nicht, richtig?« Rachel lächelte wieder.
»Richtig.«
Sie begriffen, dass sie ein Bekenntnis füreinander abgelegt hatten, das ernster war als jeder Schwur, und sie umarmten sich und klammerten sich aneinander, als sei der andere ein Rettungsanker.
Im Zug auf der Fahrt nach Westen sprachen sie am nächsten Tag über ihre Zukunft.
»Ich werde Zeit brauchen«, sagte Rachel.
Als er sie fragte, wieviel Zeit, sagte sie, sie wolle es ihrem Vater persönlich mitteilen, nicht in einem geschmuggelten Brief. »Das dürfte nicht mehr lange dauern. Alle meinen, dass der Krieg bald vorbei sein wird.« »Ich habe so lange auf dich gewartet, da kann ich jetzt auch noch länger warten«, antwortete er. »Aber ich bin nicht bereit, mich heimlich mit dir zu treffen. Ich möchte dich zu Hause besuchen können und etwas mit dir unternehmen. Und ich möchte viel Zeit mit Hattie und Joshua verbringen, um sie richtig kennenzulernen.« Rachel nickte lächelnd und nahm seine Hand.
In Rock Island wurde sie von Lillian abgeholt. Shaman stieg schon in Moline aus und holte sein Pferd aus dem Mietstall. Dann ritt er dreißig Meilen Flussaufwärts und nahm die Fähre über den Mississippi nach Clinton in Iowa. Die Nacht verbrachte er im Randall Hotel in einem schönen Zimmer mit einer Kamineinfassung aus Marmor und fließend warmem und kaltem Wasser. Das Hotel besaß einen eindrucksvollen fünfstöckigen Toilettenturm, der von allen Etagen aus zugänglich war. Als Shaman am nächsten Tag das Inman Hospital aufsuchte, um sich dort umzusehen, erlebte er eine
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