Medicus 02 - Der Schamane
sind wir noch nicht.«
»Ich würde mit ihr darüber reden, wenn ich du wäre.« Mehr hatte sie zu diesem Thema nicht zu sagen. Rachel hatte weniger Glück. Sie und ihre Mutter stritten sich mehrere Male. Lillian war höflich zu Shaman, wenn er in ihr Haus kam, aber sie brachte ihm keine Herzlichkeit entgegen. Sooft es ihm möglich war, fuhr er mit Rachel und den Kindern aus, aber die Natur arbeitete gegen ihn, denn das Wetter wurde schlecht. So wie der Sommer früh und heiß und fast ohne vorhergehenden Frühling über das Land hereingebrochen war, kam auch der Winter in diesem Jahr vor der Zeit. Der Oktober war eiskalt. Shaman fand im Stall die Schlittschuhe seines Vaters; er kaufte den Kindern in Haskins Laden »Doppelkufen« und ging mit ihnen zum Eislaufen auf den gefrorenen Büffel-Sumpf, doch es war zu kalt für ein längeres Vergnügen. Es schneite am Tag der Wahl, bei der Lincoln mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde, und am 18. des Monats fegte ein Schneesturm über Holden’s Crossing hinweg. Die weiße Decke, unter der er das Land begrub, sollte bis zum Frühjahr liegen bleiben. »Hast du bemerkt, wie Alden zittert?« fragte seine Mutter eines Morgens Shaman.
Er hatte den Knecht schon eine ganze Weile beobachtet. »Er hat die Parkinsonsche Krankheit, Ma.« »Was ist denn das?«
»Ich weiß nicht, was das Zittern verursacht, aber die Krankheit beeinträchtigt seine Muskelkontrolle.« »Wird er daran sterben?«
»Manchmal verläuft die Krankheit tödlich, aber nicht sehr oft. Höchstwahrscheinlich wird sie langsam immer schlimmer werden. Vielleicht macht sie ihn zum Krüppel.«
Sarah nickte. »Die alte Haut wird langsam zu alt und zu krank, um die Farm zu leiten. Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht Doug Penfield die Verantwortung übertragen und einen anderen als Aushilfe einstellen sollen. Können wir uns das leisten?«
Sie bezahlten Alden zweiundzwanzig Dollar im Monat und Doug Penfield zehn. Shaman rechnete es schnell durch und nickte dann. »Und was wird dann aus Alden?« fragte Sarah. »Na ja, er bleibt natürlich in seiner Hütte, und wir kümmern uns um ihn. Aber es wird schwierig werden, ihn zu überreden, die schwere Arbeit anderen zu überlassen.«
»Am besten, wir decken ihn mit Arbeit ein, die keine große Anstrengung verlangt«, sagte sie scharfsinnig, und Shaman nickte. »Ich glaube, da habe ich gleich etwas für ihn«, sagte er. An diesem Abend ging Shaman mit »Rob J.s Skalpell« zu Alden. »Muss nachgeschliffen werden, was?« fragte Alden und nahm es ihm aus der Hand.
Shaman lächelte. »Nein, Alden, ich sorge selber dafür, dass es scharf bleibt. Es ist ein chirurgisches Messer, das seit Jahrhunderten im Besitz unserer Familie ist. Mein Vater hat mir erzählt, dass es im Haus seiner Mutter in einer kleinen Glasvitrine an der Wand hing. Ich habe mich gefragt, ob du mir ein solches Kästchen machen könntest.«
»Ich wüsst’ nicht, wieso nicht.« Alden drehte das Skalpell in der Hand hin und her. »Guter Stahl, das Ding.« »Ja. Es lässt sich wunderbar schärfen.«
»Ich könnte dir auch ein solches Messer machen, falls du ein neues brauchst.«
Shaman horchte auf. »Würdest du das versuchen? Könntest du mir eins mit einer längeren und schmaleren Klinge machen als das da?«
»Dürfte kein Problem sein.« Shaman versuchte das Zittern seiner Hände zu übersehen, als Alden ihm das Messer zurückgab.
Es war sehr schwer, Rachel so nahe zu sein und doch so weit von ihr entfernt. Nirgends gab es einen Ort, wo sie sich lieben konnten. Sie stapften durch tiefen Schnee in den Wald, wo sie sich umarmten wie zwei Bären und eisige Küsse und dick gepolsterte Zärtlichkeiten austauschten. Shaman wurde launisch und mürrisch, und er bemerkte, dass Rachel dunkle Ringe unter ihren Augen hatte. Immer wenn er sie verließ, unternahm er ausgedehnte Spaziergänge. Eines Tages marschierte er den Kurzen Weg entlang und bemerkte, dass der Teil der Holzplatte auf Makwa-ikwas Grab, der aus dem Schnee herausragte, gesprungen war. Die runenähnlichen Zeichen, die sein Vater von Alden hatte ins Holz ritzen lassen, waren fast vollständig verwittert. Er spürte Makwas Zorn aus der Erde und dem Schnee aufsteigen. Wieviel davon war Einbildung, wieviel sein schlechtes Gewissen? Ich habe getan, was ich kann. Was soll ich denn noch tun? Es gibt Wichtigeres in meinem Leben als die Tatsache, dass du keine Ruhe findest, sagte er gereizt im stillen zu ihr, drehte sich um und stapfte durch den Schnee
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