Medicus 02 - Der Schamane
gerettet. Bis ich ihn kennenlernte, habe ich nicht geglaubt, dass es so etwas wie einen liebenswürdigen, gütigen Mann überhaupt gibt. Das Schlimme war, ich hatte gesündigt. Als du dein Gehör verloren hast, wusste ich, dass ich bestraft wurde und dass es meine Schuld war, und ich habe mich kaum in deine Nähe getraut. Ich habe dich so sehr geliebt, aber ich hatte doch ein solch schlechtes Gewissen.« Sie strich ihm über das Gesicht. »Es tut mit leid, dass du eine so schwache und sündige Mutter gehabt hast.«
Shaman nahm ihre Hand. »Nein, du bist nicht schwach und sündig. Du bist eine starke Frau, die wirklichen Mut brauchte, nur um zu überleben. Und was das angeht, es war auch sehr mutig von dir, mir diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Für meine Taubheit kannst du nichts, Ma. Gott will dich nicht bestrafen. Ich war noch nie so stolz auf dich wie jetzt, und ich habe dich noch nie so geliebt.«
»Danke, Shaman!« sagte sie, und als er sie küsste, war ihre Wange nass.
Fünf Tage vor Nick Holdens geplanter Rede in Rock Island gab Shaman dem Vorsitzenden des Republikanischen Komitees einen Brief für ihn. Darin hieß es, dass Dr. Robert Jefferson Cole den Kommissar Holden in einer äußerst dringenden, wichtigen Angelegenheit um eine Unterredung bitte.
Am Tag des ersten Wahlkampfauftritts ging Shaman zu Nicks großem Holzhaus in Holden’s Crossing, wo ein Sekretär ihn empfing und nickte, als er seinen Namen hörte.
»Der Kommissar erwartet Sie«, sagte der Mann und führte Shaman ins Büro.
Holden hatte sich verändert, seit Shaman ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war jetzt stämmig, die grauen Haare wurden immer lichter, und rote Äderchen überzogen seine Wangen, aber er war noch immer ein gutaussehender Mann, der seine Selbstsicherheit wie einen gutgeschnittenen Anzug trug.
»Mein Gott, Sie sind der Kleine, der jüngere Sohn, nicht? Und jetzt sind Sie Arzt. Ich freu’ mich wirklich, Sie zu sehen. Wissen Sie was? Ich brauch’ mal wieder ‘ne vernünftige ländliche Mahlzeit. Sie begleiten mich zu Anna Wileys Restaurant, und ich spendier’ Ihnen ein richtiges Holden’s-Crossing-Essen.«
Shamans Erinnerung an das Tagebuch seines Vaters war noch so frisch, dass er Nick mit Rob J. Coles Augen sah, und so hätte er alles andere lieber getan, als mit ihm das Brot zu brechen. Aber er wusste, warum er hier war, und ließ deshalb die Fahrt in Nicks Kutsche zum Restaurant an der Hauptstraße über sich ergehen. Natürlich mussten sie unterwegs an der Gemischtwarenhandlung anhalten, wo Nick - ganz der kluge Politiker, der er war - allen Männern auf der Veranda die Hand schüttelte und dafür sorgte, dass jeder »meinen guten Freund, den Doktor« kennenlernte.
Im Restaurant machte Anna Wiley viel Wirbel um die beiden, und Shaman kam in den Genuss ihres Schmorbratens, der gut war, und ihres Apfelkuchens, der ziemlich durchschnittlich war. Und schließlich kam er dazu, Nick Holden von Alex zu erzählen. Holden hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und nickte dann. »Seit drei Jahren ist er also schon gefangen?«
»Ja, Sir. Wenn er noch am Leben ist.« Nick zog eine Zigarre aus der Innentasche seiner Jacke und bot sie Shaman an. Als der sie ablehnte, biss er das Ende ab, zündete sie sich selbst an und blies nachdenklich den Rauch in Shamans Richtung. »Warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Meine Mutter meinte, es würde Sie interessieren«, antwortete Shaman.
Holden sah ihn an und nickte. Dann lächelte er. »Ihr Vater und ich... Wissen Sie, als junge Männer waren wir dicke Freunde. Haben unseren Spaß gehabt, damals.«
»Ich weiß«, erwiderte Shaman knapp.
Offensichtlich brachte sein Ton Nick dazu, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Er nickte noch einmal. »Richten Sie Ihrer Mutter die besten Grüße von mir aus. Und sagen Sie ihr, dass ich mich persönlich um die Sache kümmern werde.«
Shaman dankte ihm. Doch als er wieder zu Hause war, schrieb er trotzdem an seinen Kongressabgeordneten und seinen Senator und bat die beiden um ihre Hilfe bei der Suche nach Alex.
Einige Tage nach ihrer Rückkehr aus Chicago sagten Shaman und Rachel ihren Müttern, dass sie beschlossen hatten zusammenzubleiben.
Sarah kniff die Lippen zusammen, als sie es hörte, doch sie nickte, ohne überrascht zu wirken. »Du wirst ihren Kindern ein guter Vater sein, so wie dein Pa Alex ein guter Vater war. Was ist, wenn du eigene Kinder hast - wirst du sie taufen lassen?«
»Ich weiß es nicht, Ma. So weit
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