Medicus 02 - Der Schamane
Alden! Ich glaube, ich habe ihn getötet«, rief Billy.
Sie trugen den Alten ins Haus und legten ihn auf den Küchentisch.
Shaman schnitt seine Kleidung auf und untersuchte ihn eingehend. Mit blassem Gesicht schleppte sich Alex humpelnd die Treppe herunter und sah Shaman fragend an.
»Einige Rippen sind gebrochen. In seiner Hütte können wir ihn nicht pflegen. Ich werde ihn ins Gästezimmer legen, und ich ziehe wieder zu dir in unser altes Zimmer.«
Alex nickte. Er trat beiseite und sah zu, wie Shaman und Billy Alden nach oben trugen.
Bald darauf erhielt Alex doch noch Gelegenheit, Shamans Gehör zu sein. Er horchte konzentriert an Aldens Brust und berichtete Shaman, was er hörte. »Wird er wieder gesund?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Shaman. »Seine Lunge scheint nicht verletzt zu sein. Einem gesunden, kräftigen Menschen machen ein paar gebrochene Rippen nicht allzuviel aus, aber in seinem Alter und mit seiner Krankheit...«
Alex nickte. »Ich werde bei ihm bleiben und ihn pflegen.«
»Bist du sicher? Ich kann Mater Miriam um Krankenschwestern ersuchen.«
»Ich würde es gerne tun«, sagte Alex. »Ich habe genug Zeit!«
So hatte Shaman zusätzlich zu den Patienten, die sich auf ihn verließen, auch noch zwei Mitglieder seines Haushalts, die ihn brauchten. Obwohl er ein sehr mitfühlender Arzt war, merkte er, dass die Behandlung ihm Nahestehender nicht das gleiche war wie die Behandlung anderer Patienten. Er fühlte noch mehr Verantwortung und sorgte sich mehr. Wenn er am Ende des Tages nach Hause eilte, schienen die Schatten länger und dunkler zu sein.
Doch es gab auch heitere Augenblicke. Eines Nachmittags besuchten ihn zu seiner freudigen Überraschung Joshua und Hattie alleine. Es war das erstemal, dass sie ohne Begleitung den Langen Weg gehen durften, und sie waren sehr würdevoll und ernst, als sie Shaman fragten, ob er vielleicht Zeit habe, mit ihnen zu spielen. Er freute sich und es war ihm eine Ehre, mit ihnen eine Stunde lang im Wald spazierenzugehen, wo sie die Blüten der ersten Porzellansternchen und deutliche Spuren eines Hirsches im Schnee sahen.
Alden hatte Schmerzen. Shaman gab ihm Morphium, doch das Betäubungsmittel, das Alden vorzog, wurde aus Getreide destilliert. »Also gut, gib ihm Whiskey!« sagte Shaman zu Alex. »Aber in Maßen, verstanden?« Alex nickte und hielt sein Wort. Das Krankenzimmer bekam nun bald den für Alden typischen Whiskeygeruch, auch wenn ihm nur zwei Unzen am Mittag und noch einmal zwei Unzen am Abend gestattet waren. Manchmal löste Sarah oder Lillian Alex ab. Eines Abends übernahm Shaman die Krankenwache. Er setzte sich neben das Bett und las in einer medizinischen Zeitschrift, die er aus Cincinnati erhalten hatte. Alden war unruhig, wachte immer wieder auf und schlief dann wieder ein. Im Halbschlaf murmelte er und unterhielt sich mit unsichtbaren Personen, wiederholte Arbeitsbesprechungen mit Doug Penfield oder fluchte auf Raubzeug, das hinter den Schafen her war. Shaman betrachtete das alte, faltige Gesicht, die müden Augen, die große, rote Nase mit den haarigen Löchern, und er dachte an Alden, wie er ihn früher gekannt hatte, stark und tüchtig, der ehemalige Jahrmarktsboxer, der den Cole-Jungen beigebracht hatte, ihre Fäuste zu gebrauchen. Allmählich beruhigte sich Alden und schlief eine Weile lang tief. Shaman beendete den Artikel über Knickbrüche und wollte gerade den über den grauen Star beginnen, als er den Kopf hob und merkte, dass Alden ihn ruhig und mit klarem, festem Blick ansah. »Ich wollte nicht, dass er dich umbringt. Ich wollte doch nur, dass er dich einschüchtert«, sagte Alden.
Eine Reise nach Nauvoo
Da Shaman und Alex sich nun wieder ein Zimmer teilten, kamen sie sich manchmal vor, als wären sie noch die kleinen Jungen von einst. Als Alex eines Morgens bei Tagesanbruch schlaflos in seinem Bett lag, zündete er die Lampe an und beschrieb seinem Bruder die Geräusche des beginnenden Frühlings: das Trillern und Jubilieren der Vögel, das ungeduldige Plätschern der Bäche, die ihre alljährliche Reise zum Meer begannen, das dröhnende Rauschen des Flusses, das knirschende Krachen, wenn zwei riesige Eisschollen aufeinanderprallten. Aber Shaman war mit seinen Gedanken nicht beim Wesen der Natur. Er dachte über das Wesen des Menschen nach, er erinnerte sich an Dinge und fügte Geschehnisse zusammen, die in der Verbindung plötzlich neue Bedeutung erhielten. Mehr als einmal stand er mitten in der Nacht auf und ging auf
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