Medicus von Konstantinopel
weshalb fragt Ihr nicht lieber Meister Cagliari? Er kann Euch so viel mehr darüber sagen! Ich bin nur jemand, der sich bemüht, von ihm zu lernen, auf dass die Pest sehr bald besiegt werden kann.«
»Die Pest? Besiegen?«, echote Nektarios Andronikos, und das Lächeln, das sich nun auf seinem Gesicht zeigte, gefiel Wolfhart ganz und gar nicht. Es hatte etwas an sich, das ihn zutiefst abstieß, auch wenn der Kaufmannssohn aus Lübeck nicht genau hätte sagen können, was es eigentlich war. Offenbar amüsierte sich Nektarios über ihn. Wolfhart beschlich das Gefühl, dass die Ursache dafür auch darin liegen konnte, dass er selbst die Lage in irgendeinem entscheidenden Punkt vollkommen falsch einschätzte.
»Unsere Stadt wird bedroht. Der Kanonendonner ist nicht zu überhören. Niemand kann Konstantinopel auf dem Landweg erreichen oder verlassen, und die Truppen des Sultans sammeln sich draußen vor den Toren unserer Mauern. Sie fahren dermaßen gewaltige Geschütze auf, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, und haben wahrscheinlich fünfzig- oder sechzigtausend Krieger und mehr unter Waffen, während wir nicht einmal ein Fünftel davon aufbringen können. Auf weitere Hilfe von außen werden wir nicht hoffen dürfen. Trotzdem gibt es einen Verbündeten, den wir jetzt vielleicht brauchen und an dessen Zähmung unser geschätzter Meister Cagliari schon so lange wirkt.«
Wolfharts Augen wurden schmal. »Ich verstehe nicht, wovon Ihr redet!«
»Ich war es einst, der Meister Cagliari dem Kaiser empfahl, der tief betroffen über den Tod seiner geliebten Frau, der seligen Kaiserin, war. Der Meister versprach, das innere Wesen der Pest erforschen zu wollen.«
»Wir sind ihm auf der Spur«, sagte Wolfhart.
»Ist Cagliari denn schon weit genug, um diesen Dämon so gezähmt zu haben, dass wir ihn als Waffe gegen die Belagerer ins Feld führen könnten?«
»Was?«
Wolfharts Stimme war tonlos geworden. War das der eigentliche Zweck von Meister Cagliaris Forschungen? Nahm er all das nur auf sich, um die Pest gegen diejenigen zu wenden, die die Stadt zu erobern versuchten?
»Das Böse muss manchmal mit dem Bösen bekämpft werden«, tönte Nektarios. »Uns bleibt keine andere Wahl, und ich wollte von Euch eine Einschätzung einholen, wann es möglich sein wird, den Schwarzen Tod unter den Feinden wüten zu lassen.«
»Das ist nicht möglich!«, platzte es aus Wolfhart heraus. »Der Schwarze Tod unterscheidet nicht. Er wird genauso unter den Unseren wüten wie auf der anderen Seite! Er kann Christen und Muslime so wenig voneinander unterscheiden wie Arm und Reich, Jung und Alt oder Mann und Frau!«
Der Mann mit den unterschiedlich gefärbten Augen sah Wolfhart einige Augenblicke lang sehr nachdenklich an. »Ihr scheint wirklich noch vieles lernen zu müssen. Ich hätte doch besser zuerst mit unserem Bruder sprechen sollen.«
»Eurem Bruder?«
»Meinem Bruder im Geiste«, korrigierte Nektarios seine mutmaßlich unbedacht dahingesprochenen Worte. »Denn dieser zusätzliche, die Verteidigung unserer stets bedrohten Stadt betreffende Aspekt von Meister Cagliaris Erkenntnissen war ein Gedanke, der in einem Gespräch zwischen Meister Cagliari und mir Gestalt gewonnen hatte. Jetzt müssen wir unter Umständen nach jedem Strohhalm greifen, und ich wollte aus einer unabhängigen Quelle ein Urteil darüber haben, ob wir darauf hoffen können oder uns lieber dem Sultan ergeben sollten.«
»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Wolfhart.
»Das habe ich inzwischen auch begriffen.«
»Man erwartet mich in Meister Cagliaris Gewölben. Es ist dort viel zu tun.«
»Über unser Gespräch schweigt, Wolfhart Brookinger! Sagt Meister Cagliari kein Wort darüber, denn ich werde in Kürze selbst mit ihm sprechen.«
Wolfhart ruderte selbst die Barke, mit der er durch die Zisternen der Unterwelt von Konstantinopel fuhr. Es holte ihn schon lange niemand mehr ab, wie es an den ersten Tagen der Fall gewesen war. Wie der Fährmann auf dem Totenfluss Styx kam er sich vor. Eine lodernde Fackel steckte in einer Halterung am Bug des Bootes, und die Ruderschläge verursachten ein gleichmäßiges plätscherndes Geräusch.
Cagliaris Gewölbe in diesem Säulenwald zu finden bereitete Wolfhart längst keine Schwierigkeit mehr. Seit vielen Generationen waren kleine Wegweiser in die Säulen hineingeritzt oder mit langsam verblassender oder bei hohem Wasserstand wieder fortgewaschener Farbe aufgetragen worden. An ihnen konnte man sich orientieren.
Schon
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