Medicus von Konstantinopel
einem der Märkte Abschriften von Büchern erworben. Sein Griechisch war perfekt, sein Latein ebenfalls, und er konnte sogar genug Arabisch und Persisch, um auch Bücher lesen zu können, die in diesen Sprachen verfasst worden waren. Maria hatte das stets bewundert, denn obschon man in einer Stadt wie Konstantinopel darauf angewiesen war, sich in mehreren Zungen zu verständigen, war Marco ihr in dieser Hinsicht immer voraus gewesen.
»Marco«, brachte sie vorsichtig seinen Namen über die Lippen. Dreimal schon hatte sie ihn angesprochen, ohne dass er sie beachtet hatte. Zu sehr schien er in die Lektüre des in Leder gebundenen Buches vertieft zu sein. Ein Ruck ging nun durch seinen Körper, bevor er aufschaute. Er bedachte sie mit einem sehr eigenartigen Blick. Seine zunächst weit aufgerissenen Augen verengten sich plötzlich und bekamen einen quälend intensiven Ausdruck. Er klappte das Buch zu. »Du solltest diese Verse lesen!«, sagte er. »Sie geben Kraft und Halt!«
»Was ist es denn, was du da liest? Allem Anschein nach fesseln dich diese Zeilen ja ganz außerordentlich! Sind es Psalmen aus unserer Heiligen Schrift?«
Marco schüttelte energisch den Kopf. »Da preist man eine Schrift als heilig, und es wird dadurch nur umso offenbarer, dass alle anderen Schriften von nun an unheilig sind«, empörte er sich ziemlich düster, jedoch mit einer Entschlossenheit, die ihresgleichen suchte. »Alles kann sich im Handumdrehen ändern, werte Schwester. Dinge verkehren sich in ihr Gegenteil. Stärke verwandelt sich in Schwäche, Gutes in Böses, Wasser in Blut und Gott in den leibhaftigen Satan.«
»Marco, du redest wirr!«
Er stand auf, kam auf Maria zu und reichte ihr das Buch. »Das alles steht hier drin.«
»Was ist das?«
»Eine Abschrift des Buches der Cherubim. Ich habe sie selbst angefertigt. Sie ist nicht vollständig, aber leider gibt es dieses Buch nur in wenigen Exemplaren, und kaum eines ist wirklich lückenlos erhalten geblieben. Darin heißt es zum Beispiel, dass man selbst zum Satan werden müsse, um ihn zu besiegen. Ein interessanter Gedanke, nicht wahr?«
»Das ist gewiss eine Ketzerschrift!«, stellte Maria stirnrunzelnd fest. Sie öffnete das Buch und sah die wohlgeordneten Reihen griechischer Buchstaben.
»Was heißt schon Ketzerei, Maria? Es waren Konzilien, die bestimmt haben, welche Texte zum heiligen Kanon gezählt werden und welche nicht. Es sind Menschen, die bestimmen, welche Gedanken wahr sein dürfen und welche nicht! Nicht Gott – denn zum Herrn selbst hat offenbar sowohl unsere als auch die östliche Kirche schon längst jegliche Verbindung verloren. Es geht darum, die Macht von wenigen zu erhalten – nicht um die Wahrheit. Und diejenigen, die ihr bis auf den Grund gehen wollen, werden dann allzu leicht als Ketzer bezeichnet. Wenn du es so sehen willst, dann bin ich ein Ketzer.« Er lachte auf.
Maria gab Marco das Buch unverzüglich zurück. Sie hatte das Gefühl, es nicht länger als unbedingt notwendig in ihren Händen halten zu dürfen, so als würde sie sonst selbst Gefahr laufen, in den eigentümlichen Bann zu geraten, den es unverkennbar auf ihren Bruder ausübte.
»Wo warst du?«, fragte sie ihn noch eindringlicher als zuvor.
Doch Marco schüttelte nur wieder den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte er. »Ich darf es nicht.«
»Warum nicht?«
»Um dich nicht in Gefahr zu bringen.«
»Von was für einer Gefahr sprichst du?«
»Jedes weitere Wort ist zu viel, Maria. Sei unbesorgt, ich habe die Pest nicht, so wie du auch nicht. Noch nicht. Sonst würden wir die Symptome der Krankheit längst an unserem Körper spüren, und dieser Quacksalber des Kaisers hat schließlich keine Zeichen an unseren Körpern entdeckt. Also kannst du unbesorgt sein, ich habe das Übel nicht in die Stadt getragen und nirgendwo Argwohn geweckt.«
»Marco, Davide und ich brauchen deine Hilfe!«
»Meine Hilfe? Maria, niemand hat je meine Hilfe gebraucht. Du solltest voll und ganz auf Davide vertrauen, das hat unser Vater auch getan. Und wenn auch ansonsten mehr Entzweiendes als Gemeinsames zwischen uns geherrscht haben mag, so wäre ich mit ihm in diesem Punkt ganz gewiss einer Meinung!«
Maria spürte in diesem Moment so deutlich wie selten zuvor, dass es ihr offensichtlich nicht mehr möglich war, ihren Bruder innerlich zu erreichen. Die ketzerischen Lehren dieses sogenannten Buches der Cherubim schienen ihm auf irgendeine, für die junge Frau kaum nachvollziehbare Art und
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