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Medicus von Konstantinopel

Medicus von Konstantinopel

Titel: Medicus von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Walden
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anders war es zu erklären, dass er die Länder der Christenheit in den letzten hundert Jahren so oft mit dem Schwarzen Tod geschlagen hatte? Alle zehn bis fünfzehn Jahre kehrte der über die Häfen zurück, und so hatte es auch in Lübeck nicht eine Generation gegeben, die nicht mehrfach Berührung mit dieser Geißel gehabt und das unerklärliche Sterben miterlebt hatte. Nicht immer schlug diese Plage mit der gleichen tödlichen Wucht zu. Manchmal war ein Ausbruch auch schon nach kurzer Zeit vorbei und verebbte bei ihrem Vormarsch zu Lande – sicher auch deshalb, weil es mittlerweile weite unbesiedelte Gebiete gab, in denen niemand mehr lebte, den die Seuche hätte treffen können.
    Zweimal hatte Wolfhart erlebt, wie die Seuche in Lübeck gewütet hatte. Beim ersten Mal war er noch ein Kind gewesen und hatte mitansehen müssen, wie zwei ältere Brüder und eine Schwester blutspuckend und von schrecklichen Krämpfen geschüttelt der Seuche erlegen waren. Es hatte so viele Tote gegeben, dass sie tagelang in den Straßen liegen blieben – zusammen mit den Kadavern der Ratten, die das üble Miasma offenbar aus der tiefen Erde trieb, bevor sie ebenso elendig wie die Menschen an der Krankheit zu Grunde gingen. Selbst Hunde und Katzen waren vor dem Übel nicht sicher, und man fand diese treuen Hausbewacher dann am Morgen in ihrem eigenen blutigen Auswurf liegen – oft in irgendeinem verborgenen Winkel, in den sie sich zum Sterben zurückgezogen hatten. Diese Erinnerungen hatten Wolfhart niemals aus ihrem eisigen Schreckensgriff gelassen. Niemand war vor diesem unsichtbaren, blindwütigen Ungeheuer sicher, das die Reichen genauso in ihren reich ausgestatteten Patrizierhäusern tötete wie die armen Bettler und Tagelöhner, die sich täglich am Hafen verdingen mussten. Alte und Junge, Fromme und Heuchler, Barmherzige und Grausame – sie alle raffte der dunkle Schatten dahin. Weder die hohen Mauern von Patrizierhäusern und Fürstenpalästen noch die inbrünstige Buße der sich selbst geißelnden Flagellanten konnten Schutz vor dem Unheil bieten. Den Gedanken, diesem Schrecken vollkommen machtlos ausgeliefert zu sein, hatte Wolfhart schon als Kind kaum ertragen können.
    Als die Pest zum zweiten Mal zu Wolfharts Lebzeiten Lübeck erreichte, war er bereits ein junger Mann von siebzehn Jahren gewesen, der die örtliche Lateinschule besucht und dort vor allem in Arithmetik, im Lesen und Schreiben und in den Sprachen ausgebildet worden war. Das waren jene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein zukünftiger lübischer Fernhandelskaufmann nach Ansicht der Familie haben sollte. Die Wissbegier hatte ihn erfasst, und seine Lehrer hatten ihn als begabt angesehen. Wolfhart hatte von den Magistern seiner Schule von den Universitäten in Erfurt, Köln, Heidelberg und Prag gehört, an denen sich die gelehrtesten Köpfe der Zeit trafen, um nach Erkenntnissen zu suchen und sie auszutauschen. Männer, die lateinische und griechische Grammatik lehrten und die die alten Schriften zu deuten wussten wie niemand sonst; Theologen, die dem Willen Gottes und dem verborgenen Sinn heiliger Schriften auf der Spur waren, Arithmetiker, die den Zahlen den Zauber ihrer inneren Gesetze und Eigenschaften zu entlocken versuchten, und Rechtsgelehrte, die die Grundlagen des römischen Rechts ebenso kannten wie das lübische Stadtrecht, das von Antwerpen bis Riga galt. Es war nicht leicht gewesen, Adam Brookinger, den traditionsbewussten Patrizier, davon zu überzeugen, dass sein Sohn Wolfhart für mehrere Jahre in eine ferne Stadt geschickt werden sollte, um sich einem Studium zu widmen. Aber er hatte wohl gespürt, wie drängend dieser Wunsch bei Wolfhart gewesen war. Drängender als irgendetwas anderes, was ihn bewegte. Folglich hatte Adam Brookinger nachgegeben – unter der Voraussetzung, dass Wolfhart sich dem Studium der Rechtskunde widmete.
    »Es steht einem Kaufmann gewiss gut an, die Grundlagen des Rechts zu kennen und seinen Vorteil daraus zu ziehen!«, so hatte Wolfhart die Worte seines Vaters noch im Ohr. »Und die paar Jahre werde ich schon auf dich verzichten können. Sie werden dich reicher an Erfahrung machen und dich zu einem noch besseren Kaufmann werden lassen.«
    Jetzt war Wolfhart zurück – mit einer Verspätung von fast fünf Jahren. Ein verlorener Sohn, der nur gekommen war, um sich auf eine noch weitere Reise zu begeben. Eine Reise, die vielleicht keine Wiederkehr kannte …
    Wolfhart Brookinger erreichte das dreistöckige Haus

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