Medicus von Konstantinopel
Weise innere Kraft zu geben. Kraft, um den Schrecken zu verwinden, der hinter ihnen lag und sie beide gewiss noch lange in ihren Alpträumen verfolgen würde; Kraft, die Maria nicht mehr hatte. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht versucht, ihm diese ketzerischen Gedanken mit aller Macht auszureden, obgleich sie wusste, wie schwierig das hätte werden können. Derzeit brauchte sie einfach alle Kraft, die sie noch besaß, für sich selbst, um nicht völlig zu verzweifeln.
Eines Nachts kam Fausto Cagliari zum zweiten Mal zum Kontor des Hauses di Lorenzo, um die Körper der beiden überlebenden Erben zu untersuchen. Wieder hatte man einen Raum so herrichten lassen, wie es Meister Cagliari wünschte. Die Scham, die Maria diesmal empfand, war nicht geringer als bei der ersten Untersuchung. Dennoch ließ sie es über sich ergehen. Das Urteil dieses Arztes bedeutete zumindest gegenwärtig ein wenig Gewissheit – sofern es diese im Zusammenhang mit der Pest überhaupt geben konnte. Schließlich konnte selbst dann, wenn festgestellt würde, dass sie völlig frei von den Zeichen dieser Krankheit war, niemand ausschließen, dass sie nicht schon am Tag darauf das üble Miasma einatmete, woraufhin sie dann dem Verderben anheimgegeben wäre.
Cagliari verrichtete seine Untersuchung wortlos und mit schmerzhafter Rohheit. Bei der ersten Untersuchung war er derart grob gewesen, dass sich an einigen Stellen ihres Körpers blaue Flecken gebildet hatten, von denen sie erst befürchtet hatte, sie könnten frühe Stadien der Pestbeulen sein.
»Zieht Euch wieder an«, murmelte der maskierte Arzt hinter seiner Schnabelmaske.
»Diesmal ist es nicht nötig, die Kleider zu verbrennen?«, fragte Maria.
»Nein. Ihr seid frei von allen Zeichen der Pestilenz.«
»So sei dem Herrn Dank dafür!«
Maria streifte sich ihre Kleider rasch wieder über. Der Arzt hatte sich bereits abgewandt. Im flackernden Licht der Kerzen und Öllampen schien er kaum etwas Menschliches an sich zu haben, sondern wirkte wie ein groteskes dämonisches Mischwesen aus Vogel und Mensch.
»Meister Cagliari«, sprach Maria dann den Arzt mit fester Stimme an.
Cagliari wandte den Kopf. »Ich habe meinen Dienst an Euch verrichtet. So werdet Ihr Zugang zum Hof bekommen, was für Euch ja wohl von großer Bedeutung sein wird, wenn Ihr das Wohlwollen und die Privilegien des Kaiserhauses behalten wollt. Alles andere soll mir gleichgültig sein. Schickt also Euren Bruder zu mir – und ich will hoffen, über ihn dasselbe sagen zu können wie über Euch!«
»Ich würde gerne Euer Gesicht sehen, Meister Cagliari – nun, da Ihr bereits zum zweiten Mal alles gesehen habt, was an mir verborgen war!«
Maria sprach mit sehr klarer Stimme, von der eine Stärke ausging, die sie selbst am meisten überraschte. Sie hatte einfach das Gefühl, unbedingt sehen zu müssen, was für ein Gesicht unter dieser Maske verborgen war und zu wem diese unsagbar kalten grauen Augen gehörten, deren Blick sie auf so unangenehme Weise gemustert hatte.
Cagliari drehte sich halb um. Der Lichterschein ließ den eigentümlichen Anzug, den er trug, jetzt erst recht wie die Haut eines Reptils erscheinen. Die Augenlöcher in der Schnabelmaske lagen im Schatten. »Seid glücklich, wenn Ihr mein Antlitz niemals zu Gesicht bekommt!«, wisperte er auf eine Weise, die keinen Widerspruch duldete.
Ein kalter Schauder überlief Maria.
Drittes Kapitel
Ein Kaufmannssohn aus Lübeck
Lübeck, 1448
Wolfhart Brookinger durchschritt das Stadttor von Lübeck, jener Stadt, die man insgeheim auch als Hauptstadt der Hanse bezeichnete. Das geschäftige Treiben an den Wechselbänken erweckte heimatliche Gefühle und Erinnerungen. Fünfundzwanzig Jahre war Wolfhart Brookinger nun – und es war lange her, dass er zum letzten Mal den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte.
Aufgebrochen war er einst zu Pferde und in edlen Kleidern, wie sie für einen Kaufmannssohn aus einer Familie angemessen waren, die in der wechselvollen lübischen Geschichte schon dreimal den Ältermann der Bergenfahrer gestellt hatte, einer der einflussreichsten Bruderschaften von Fernhandelskaufleuten.
Jetzt kehrte er zu Fuß und in einfachen Gewändern zurück. Das sackartige, gegürtete und knielange Wams, das er über Hosen aus fleckigem Leder trug, war mehrfach geflickt. Der grobe dunkle Stoff erinnerte an die Kutten von Mönchen. Am Gürtel hing ein Langmesser, kein Seitschwert, das früher dem Ritterstande vorbehalten gewesen war, sich
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