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Medicus von Konstantinopel

Medicus von Konstantinopel

Titel: Medicus von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Walden
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seiner Familie. Die gezackten Giebel reckten sich stolz empor. Der Anblick war ihm so vertraut wie jener des Domes, dessen Türme sich ganz in der Nähe erhoben und beim gegenwärtigen Sonnenstand ihren übermächtigen Schatten genau auf das Brookinger-Haus warfen.
    Wolfhart atmete tief durch. Der Bart war während seiner Reise von Erfurt nach Lübeck stark gewachsen, denn er hatte keine Kupfermünze für den Bader ausgeben wollen. Bei seinem Aufbruch war sein Bartwuchs nicht mehr als ein dünner Flaum gewesen, der kaum hatte erahnen lassen, wie sein Bart einst aussehen würde. Von dem Geld, das ihm sein Vater seinerzeit mitgegeben hatte, war ohnehin nichts mehr übrig. Das wenige, was er zurzeit besaß, stammte einerseits aus dem Verkauf seiner letzten Habseligkeiten und andererseits von seiner Verdingung als Schreiber sowie seiner Beteiligung am Kurrende-Gesang, wie er bei den Studenten Erfurts üblich war. So singen zu lernen, dass man dafür auch tatsächlich ein paar Münzen in die ausgelegte Lederkappe legte und nicht mit faulen Eiern oder schlecht gewordenem Obst nach ihm warf, hatte ihn viel Mühe gekostet; eine wirkliche Begabung hatte er auf diesem Gebiet an sich selbst wohl auch nicht feststellen können.
    Immerhin hatte diese Tätigkeit dazu beigetragen, ihm die Fortsetzung seiner Studien weit über den vom Vater eigentlich festgesetzten Zeitpunkt hinaus zu ermöglichen.
    Wolfhart zögerte, ehe er die Straße überquerte, um auf das Hauptportal des Brookinger’schen Hauses zuzugehen und mutig dessen Stufen zu betreten.
    Ein vierspänniger Planwagen, der bis unter das stockfleckige Leinentuch mit Stoffballen beladen war, rumpelte an ihm vorbei und gab Wolfhart einen Vorwand, die wenigen, entscheidenden Schritte noch nicht sofort gehen zu müssen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er sich mit einer Reihe unruhiger Gesten den Staub von den Kleidern schlug.
    Damals, als er die Stadt verlassen hatte, war der Schwarze Tod umgegangen. Ein Bediensteter seines Vaters hatte Wolfhart auf dem Weg nach Erfurt begleitet. Wolfhart erinnerte sich noch lebhaft daran, sich im Sattel umgedreht und auf die Rauchsäulen der Pestfeuer gestarrt zu haben, die sich dunklen, übermächtigen Schatten gleich über die Stadt erhoben hatten. Die Erinnerung an dieses zweite Auftreten des Schwarzen Todes in Lübeck zu Wolfharts Lebzeiten lastete noch viel schwerer auf seiner Seele als die furchtbaren Erlebnisse, die er in seiner früheren Kindheit mit dem Dämon dieser Krankheit gehabt hatte. Das lag in erster Linie daran, dass er sich insgeheim bis heute schämte, Lübeck und alle, die ihm lieb und teuer gewesen waren, genau in jenem Moment verlassen zu haben, in dem sie von dieser übermächtigen und völlig unkalkulierbaren Gefahr bedroht wurden. Gleichzeitig war aber auch das Gefühl einer großen Erleichterung darüber in ihm gewesen, diesen Ort hinter sich lassen zu können und so nicht das bösartige Miasma einzuatmen, das jetzt allüberall aus dem Boden hervorquoll und den Pestdämon verbreitete.
    Womöglich war es tatsächlich so, dass der Herr diese Geißel auf die geschundenen Körper der Menschen herniederzucken ließ, um ihren Widerstandsgeist zu wecken. An eine solche Prüfung schienen die wenigsten zu denken, die davon überzeugt waren, dass der Herr diese Plage nur deswegen geschickt hätte, um sich erweisen zu lassen, ob ihr Glaube stark genug war.
    Man musste unbedingt etwas tun gegen diese schreckliche Krankheit – und vor allem durfte man die von ihr Geschlagenen nicht einfach sich selbst überlassen. Jedenfalls konnte sich Wolfhart nicht vorstellen, dass es der Herr so bestimmt haben sollte, dass man die Hände in den Schoß legte und geduldig sein Ende erwartete. Es musste doch irgendein Mittel gegen diese Seuche geben!, hatte er damals gedacht, und dieser Gedanke ließ ihn bis heute nicht los. Es mochte ja sein, dass Gott es war, der dieses Unheil zur Erde gesandt hatte – gleichwohl sprach auch einiges dafür, dass dieser Dämon ganz und gar den Gesetzen der Natur folgte, sobald er einmal auf der Erde freigesetzt worden war. Diese Gesetze zu erfassen war vielleicht der erste Schritt, um das Leid endlich bekämpfen zu können, das der Schwarze Tod verursachte.
    Wolfhart Brookinger atmete tief durch, bevor er nun geradewegs auf jenes Haus zuging, in dessen zweitem Geschoss das Zimmer lag, in dem seine Mutter ihn einst mit der Hilfe einer erfahrenen Hebamme zur Welt gebracht hatte.
    Nachdem er die Stufen

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