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Medienmuendig

Medienmuendig

Titel: Medienmuendig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Bleckmann
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problematische Verhaltensweisen ermöglicht, die keine unmittelbaren negativen Konsequenzen haben. Und das ist genau das Problem, das ich oben zum Unterschied zwischen Toleranz und Freundlichkeit im Umgang mit Fehlern beschrieben habe.

Reihenfolge beachten! − Lauflernhilfe verhindert den aufrechten Gang
    Auf die Reihenfolge kommt es bei der kindlichen Entwicklung wirklich an, und zwar ganz und gar nicht nur, wie ich in Kapitel 4 ausführlich beschreibe, in der Medienerziehung. Nehmen wir das Beispiel Laufenlernen. Fast kein Kind lernt laufen, ohne vorher tüchtig »trainiert« zu haben: auf den Bauch drehen, strampeln, robben, krabbeln. Irgendwann ist die Rumpfmuskulatur stark genug, so dass das Kleinkind anfängt, die Balance in aufrechter Haltung zu erproben: Dazu zieht es sich immer wieder hoch, steht, schwankt, plumpst zu Boden. Je nach Persönlichkeit ist es in dieser Übergangsphase kurz vor dem Durchbruch, vor dem Erlernen einer neuen Fähigkeit quengelig, unausgeglichen, wütend. Aber wenn es dann das Neue aus eigener Kraft geschafft hat, ist es überglücklich. Wenn ein Kind, aus welchen Gründen auch immer, eine verzögerte Bewegungsentwicklung durchläuft und das Laufenlernen ihm schwer fällt, wird eine erfahrene Krankengymnastin zuerst beurteilen, ob überhaupt eine spezielle Förderung nötig erscheint. Wenn dies der Fall ist, wird sie mit ihm, vielleicht zur Überraschung der Eltern, eben nicht das Laufenlernen üben. Sie wird spielerisch die Vorläuferfähigkeiten trainieren, welche die Muskulatur stärken, die später zum Laufenlernen benötigt wird. So lernt das Kind laufen, wenn es dafür reif genug ist.
    Allerdings kann man das Prinzip der richtigen Reihenfolge missachten, indem man ein zu kleines Kind mit einer noch zuschwachen Rumpfmuskulatur in eine sogenannte »Lauflernhilfe« setzt, also in einen rollenden Kasten mit einer Stoffbespannung, die zwei Beinlöcher enthält. Praktisch ist das für die vielleicht von Quengelei zermürbten Eltern: Unruhige Kinder sind dabei oft plötzlich »zufrieden«. Es scheint vorübergehend attraktiv zu sein, sich schnell und aufrecht im Raum fortbewegen zu können, obwohl man dies eigentlich, also aus eigener Kraft, noch nicht kann.
    Aber auf längere Sicht ist es schädlich. Die Lauflernhilfe ist jeder Krankengymnastin ein Greuel, denn sie verzögert eher noch die Bewegungsentwicklung und führt später zu Haltungsschäden. Kanada hat übrigens als erstes Land die Lauflernhilfe per Gesetz verboten. 65
    Noch zwei Gedanken zur Reifung, als Erstes ein Experiment: Stellen Sie zwei Gläser, ein hohes schmales und ein niedriges breites Glas, nebeneinander. Ein drittes, kleineres Glas gießen Sie randvoll mit einer Flüssigkeit und leeren es in eines der größeren Gläser. Dann gießen Sie es nochmals randvoll und entleeren es in das zweite große Glas. Und nun die Preisfrage: In welchem der beiden großen Gläser ist mehr drin? Ganz einfach, werden Sie denken, in beiden ist genau gleich viel drin, weil ich genau gleich viel abgemessen und hineingegossen habe. Richtig!
    Nun stellen Sie dieselbe Frage einem kleinen Kind. Es wird sagen, in dem hohen schmalen Glas sei mehr drin. Ganz einfach, wird das Kind denken, man sieht doch, dass mehr drin ist. Auch richtig, jedenfalls nach der Denkweise des Kleinkindes. Dieses und viele andere »Experimente« erdachte Jean Piaget und führte sie mit Kindern verschiedenen Alters wieder und wieder durch. Ab einem bestimmten Alter haben Kinder das Prinzip der »Volumenkonstanz« verstanden (also dass in beiden Gläsern gleich viel ist, wenn ich gleich viel hineingegossen habe), aber wenn sie jünger sind, gehen sie nach dem Augenschein: Wo der Pegel höher steht, da ist mehr drin.
    Dieses und andere Experimente haben gezeigt, dass die verschiedenenStufen der Entwicklung vor allem vom Alter des Kindes abhängen, sich in geregelter Reihenfolge vollziehen und und durch noch so viel Übung nicht unterhalb eines Mindestalters erreicht werden. Natürlich könnte man ein für das Verständnis von Volumenkonstanz zu junges Kind mit Belohnung darauf drillen, dass es beim Umschüttexperiment brav »gleich viel!« antwortet. Wenn aber früher Drill an die Stelle selbständig gereiften Verständnisses tritt, kommt das einer kognitiven Lauflernhilfe gleich. Ähnlich wie die physische Lauflernhilfe zu körperlichen Haltungsschäden führt, kommt es dann zu geistigen Haltungsschäden, zu Einschränkungen im freien und aufrechten Denken. Diese

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