Medienmuendig
schon ist das Spiel aus. Vorbei. Der »Zauber« ist gebrochen. Aber wenn eine spielfreundliche Stimmung im Raum herrscht, steigen die beiden nach einer Weile wieder ein, und das Piratenabenteuer geht weiter.
Susan Linn, Spielkind und Bauchrednerin, arbeitet am Medienzentrum Judge Baker Children’s Center und unterrichtet an der Harvard Medical School. Wie passt das zusammen? Frau Linn hat sich als Therapeutin traumatisierter Kinder mit einer interessanten Methode einen Namen gemacht: Mit ihren Handpuppen und als Bauchrednerin hat sie mit
puppet therapy
Kindern, die unter schwerer Krankheit, Trennungen oder anderen belastenden Ereignissen litten, eine Möglichkeit gegeben, sich sozusagen durch den Mund eines Stellvertreters auszudrücken, und erzielt damit beachtliche Erfolge. Voller Elan engagiert sie sich für den Schutz kindlicher Spielräume und hat dazu ein sehr lesenswertes Buch geschrieben (vgl. unten meine Liste S. 226). Darin stellt sie fest:
Spiel gedeiht in einer Umgebung, die Kindern sichere Grenzen bietet, aber dabei nicht ihre Fähigkeit unterläuft, spontan zu denken und zu handeln. Es erwächst aus Gelegenheiten zur Stille. Für Kinder, die dauernd mit Reizen und Handlungsaufforderungen überflutet werden, sind die Kosten sehr hoch: […] Sie haben weniger Chancen, schöpferisch tätig zu werden, also dieganz und gar menschliche Eigenschaft der Kreativität auszuüben. … Die Kinder verlieren heutzutage Jahre des kreativen Spiels, in denen sie ein Gefühl für ihre eigenen Fähigkeiten erlangen könnten, in denen sie ihre Unabhängigkeit ausprobieren, sich am konstruktiven Problemlösen versuchen oder üben könnten, den Dingen um sich herum eine Bedeutung zu verleihen. 48
Anders gesagt, sie verlieren durch die Medien Jahre, in denen sie die Grundlagen für die spätere Medienmündigkeit legen müssten. Aber sie verlieren nicht nur einfach Zeit.
Eine tiefergehende Störung des Spiels, die sich dauerhaft auswirkt, ist alles Präformierte, alles Vorgefertigte, und das fängt nicht erst bei den elektronischen Medien an. Das Präformierte kann durchaus etwas Materielles sein, etwa ein perfekter Piratensäbel mit gestochen scharf aufgedrucktem Papagei. Dieser kann eine Anfechtung für die Phantasie sein, indem er den Besenstiel, den Tisch und die Wolldecke aus dem oben beschriebenen Piratenspiel im Vergleich unzulänglich wirken lässt. Noch stärker phantasiegefährdend wirken Filme oder Computerspiele.
Das Kind, das auch ein noch so gut gemachtes Fernseh-Spiel anschaut, ist der Aktivität enthoben, die es braucht, um eine Geschichte selbst zu gestalten. Es braucht sich seine Helden nicht zu erfinden. Es bekommt sie als Fertigkost vorgesetzt. 49
Wer würde seinen Kindern nicht gönnen, dass sie spielen? Und wenn sie es nicht tun, wer würde dann nicht alles in Bewegung setzen, damit es doch wieder gelingt? Leider gehen die Ideen darüber, wie das zu bewerkstelligen ist, oft in die Irre. Wer als Reaktion auf Spielmüdigkeit stets mehr Spielzeug heranschafft, hat langfristig wenig Aussicht auf Erfolg. Kreatives Spiel hängt nämlich viel stärker von der Spielfähigkeit des Kindes als von den äußeren Gegebenheiten ab:
Ein gutes Spielzeug ist 90 Prozent Kind und 10 Prozent Spielzeug.
(Joan Almon) 50
Vieles von dem, was man heute in Spielwarenkatalogen angepriesen sieht, ist aber höchstens 10 Prozent Kind und 90 Prozent Zeug! Wenn Kinder mit einem Spielzeug spielen, das eine Figur aus einer Fernsehserie darstellt, spielen sie weniger kreativ, ganz besonders direkt nach dem Fernsehen. 51 Wer sein Kind in den Wild-, Wald- oder Waldorfkindergarten 52 schickt, wird dort ohnehin auf starke Ablehnung des Präformierten treffen. Aber auch bei staatlichen und kirchlichen Trägern hat es sich eingebürgert, regelmäßig den Kindergarten für ein paar Wochen ganz zu entrümpeln. »Spielzeugfreier Kindergarten« nennt sich dieses bewährte Konzept. Und Kinder, die ohne zu viel Zeug spielen dürfen, spielen wirklich anders (vgl. auch Abb. S. 131).
Irren ist menschlich – und innovationsförderlich
In einer guten Balance zwischen Bindung und Freiheit sieht auch die ungarische Kinderärztin und Heimleiterin Emmi Pikler die Grundlage für eine gesunde Entwicklung: Sie hat ein Programm zur Pflege und Betreuung von sehr kleinen Kindern in Kinderheimen entwickelt, in dem sie besonders auf die Bewegungsentwicklung achtet. Sie konnte zeigen, dass eine Kombination von kurzen, aber
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