Medienmuendig
sind allerdings sehr viel schwerer zu erkennen. 66
Dass Lern-Fortschritt manchmal sogar durch Rückschritte gefördert werden kann, zeigt ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Mathematik-Didaktik. Kinder, die Mühe mit dem Subtrahieren haben, weisen oft auch körperlich ein mangelhaft ausgebildetes Bewusstsein für den Raum hinter ihnen auf. Die ungeübten körperlichen Fähigkeiten sind an dieser Stelle eng mit den Schwierigkeiten im Denken verknüpft. Wird das Rückwärtslaufen, Rückwärtshüpfen, Rückwärtsbalancieren mit den Nachzüglern besonders geübt, fällt dann plötzlich auch das Rückwärtsrechnen viel leichter. In diesem Sinne gelingt nachhaltiger Fortschritt eben manchmal erst durch »Rückschritt«. 67
Um es noch einmal zusammenzufassen: Auf die anfängliche Frage, wie Kinder »fit für die Zukunft« werden, konnte am Beispiel einer evolutionsbiologischen Erörterung über Schlüssel und Schlösser gezeigt werden, dass frühe Spezialisierung oft das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bezwecken möchte: Werden Kinder zu früh der Fertigkost der Bildschirme ausgesetzt, trägt dies sogar zu einem Mangel an Fachkräften in der Bildschirmbranche Informatik bei. Auch wer die Überlegungen zum Zauber des Spiels, das Grundlage für Spiritualität und schöpferische Gedankentätigkeit beim Erwachsenen darstellt, nicht teilt, hat bodenständigere Gründe zur Genüge, Spiel fürwichtig zu halten: Fitness-Training für eine ungewisse Zukunft, Gehirnwachstumsmotor, Trauma-Therapie-Methode – all das kann Spielen sein. Anschließend ging es um die Bedeutung des Bedürfnisaufschubs, erläutert an den Beispielen vom Marshmallow-Test und vom hungrigen Säugling. Die abschließenden Beispiele zum Ritalin für Früheingeschulte, zur Lauflernhilfe, zur Volumenkonstanz und zum Rückwärtslaufen als Rechentraining zeigten vor allem noch einmal deutlich, wie entscheidend wichtig es ist, den Kindern Zeit und Raum zu geben, um sie Entwicklungsschritte selbständig und in der richtigen Reihenfolge gehen zu lassen. Dass dies alles nicht überflüssiges Vorgeplänkel ist, über das wir uns ohnehin alle einig sind, sondern hoch bedeutsame Erkenntnisse darüber, wie Kinder heute gesund aufwachsen können, mag das folgende erschreckende Beispiel zeigen.
Magische oder monströse Momente? – Ein Computer für Neugeborene
Viele tausend amerikanische Mütter kaufen Computer für Neugeborene. Was für eine monströse Idee!, denken Sie jetzt vielleicht. Ein Neugeborenes kann doch noch gar nicht scharf sehen, seine Hände noch nicht führen, seinen Kopf noch nicht halten, geschweige denn sitzen! In Amerika, wo man uns Europäern immer ein wenig voraus zu sein scheint, nimmt man aber die Frühförderung im Bereich Medienerziehung offenbar sehr ernst. Oder wollen gestresste Eltern bloß einen Aufbewahrungsort für den Säugling, an dem dieser »sicher« und »beschäftigt« ist? Fest steht: Computer für Neugeborene finden unter dem Namen
Magic Moments Learning Seat
(zu Deutsch also
Lernsitz »magische Momente«)
regen Absatz. Der Säugling wird dabei in einem Sitz mit 45-Grad-Neigung deponiert, ähnlich einer Sitzschale für Autofahrten. Dann »steuert« das Baby durch Bewegung seiner Ärmchen die Bild- und Geräuschfolge des oberhalb in seinem Sichtfeld angebrachten Computermonitors. Trifft dasBaby, das ja seine Arme noch nicht koordiniert bewegen kann, mit seinen Händen zufällig eines der Bedienelemente, dann erscheint etwa ein Bild von einem Affen und eine Stimme sagt dazu »Affen mögen Bananen«, oder es ertönt Musik. »Dieses spaßige Lerncenter verspricht Stunden voller Abenteuer«, so der Werbetext. 68
Der gesunde Menschenverstand lehnt medienpädagogische Frühförderung dieser Art entschieden ab, und zwar ganz und gar nicht nur bei Neugeborenen. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie das genauso sehen! Viel zu selten wird heute noch denjenigen Erwachsenen gratuliert, die es schaffen, Kindern eher zu reichlich als zu wenig Zeit für Entwicklungsaufgaben zu gönnen; die ihre Kinder nicht nur fördern, fördern, fördern, sondern in Ruhe reifen lassen. Wer Gelassenheit, Selbstvertrauen und eine genaue Beobachtungsgabe mitbringt, wird Kinder vor monströsen Angeboten à la Neugeborenencomputer bewahren. Denn wenn Sie ein Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, als Eltern, Großeltern, Tagesmütter alles gut und richtig zu machen, kann sich das Ihnen anvertraute Kind auf so viele wirklich magische Momente in der
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