Medienmuendig
den Überblick über die Ziele und die verschiedenen dorthin führenden Wege nicht zu verlieren. Das Beispiel vom Kampf der Computerstimme gegen den Bahnangestellten dagegen habe ich mir wohl gemerkt, weil ich damals dachte: Was sagt es über unser Verhältnis zur Technik aus, dass wir ein Versagen dieser Technik nicht mit einkalkulieren? Schaudern lässt jedenfalls der Gedanke, dass unbemerkt etwas, das als Werkzeug entwickelt wurde, um dem Menschen zu dienen, sich verselbständigt und nicht mehr zu bremsen ist. Oder wie Goethes Zauberlehrling es sehr schön auf den Punkt bringt: »… die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.« Dabei kann man zum Beispiel an den Klimawandel durch Treibhauseffekt denken, der seinen Ursprung in der Erfindung und im Einsatz von mehr und mehr energieverbrauchenden Maschinen hat. Der fortschreitende Einsatz dieser zum Wohle des Menschen erdachten Hilfsmittel hat schon heute gravierende Folgen.
Wie viele Katastrophen braucht es, um den politischen Willen zum Umdenken im Umgang mit riskanten Großtechnologien aufzubringen? Eine ganze Generation von Anti-Atomkraft-Aktivisten hoffte schon 1986, nach Tschernobyl, auf ein Umdenken. 25 Jahre später, ausgelöst durch die jüngsten schrecklichen Ereignisse in Fukushima, scheint die Energiewende zumindest in Deutschland endlich stattzufinden.
Um die Chancen gegen die Risiken von Technologien abzuwägen, muss man auch mit dem Schlimmsten rechnen. Aber das Schlimmste können eben nicht nur Naturkatastrophen oder Terroranschläge sein, die das Internet oder Teile davon lahmlegen, sondern auch der Verlust realer Lebenszeit, der Verlust von Selbstbestimmtheit und Kreativität. Über solche Fragen in Bezug auf Medien nachzudenken macht den obersten Baustein im Turm der Medienmündigkeit aus: kritische Reflexionsfähigkeit.
Es bedeutet, auf das eigene Medienverhalten, aber auch auf das Verhalten der ganzen Gesellschaft wie »von außen« zu schauen, es zu betrachten und einzuschätzen, zu einem Urteil zu kommen und daraus Konsequenzen für die eigenen Handlungen zu ziehen. Eben zu re-flektieren. Dazu ist ein Kind noch nicht in der Lage; ein Jugendlicher entwickelt diese Fähigkeiten Stück für Stück, aber auch der Erwachsene lernt in puncto kritischer Reflexion nie aus.
Ich bin der Meinung, dass Schule und Elternhaus gemeinsam eine hohe Verantwortung dafür tragen, jungen Menschen zu helfen, den obersten Baustein auf den Turm zu setzen. In Teil III werden dazu viele wichtige Ratschläge für Eltern gegeben, daher an dieser Stelle nur einige Anregungen für die Förderung kritischer Reflexionsfähigkeit an der Schule: »Medienkunde« als Oberstufenfach ist heute wichtiger als je zuvor. All das, was im zweiten Teil dieses Buches (Kapitel 6 bis 8) an Informationen über Medien und ihre Auswirkungen steht, soll nicht nur Ihnen als Leser zum Ausbau Ihrer kritischen Reflexionsfähigkeit helfen, sondern gehört dringend auch in Oberstufen- und Uni-Lehrpläne hinein.
Aber warum sollte das kritische Nachdenken über Medien nur in ein eigenes Fach »verbannt« werden? Denkbar ist auch, in vielen anderen Fächern kritische Medienfragen aufzugreifen. Einige Beispiele:
Im Englischunterricht der Oberstufe könnte man vielleicht mit den Schülern das Lied »Throw away your television« von den Red Hot Chilli Peppers hören und anschließend ins Deutsche übersetzen lassen. Das könnte sich etwa so anhören:
Wirf deinen Fernseher weg. Es ist Zeit, diese klare Entscheidung zu treffen […] Es ist nur Wiederholung einer alten Geschichte, es ist nur abgestandene Wiederholung. […] Besiege die Pest, denn sie ist ansteckend, zieh den Stecker und nimm die Bühne ein, es ist Zeit für die Wiederentdeckung deiner Intuition.
Und im Biologieunterricht? Wenn es in der Verhaltensbiologie um den Behavioristen B. F. Skinner geht, könnte die Lehrerin Spielmerkmale von Computerspielen mit den Schülern gemeinsam auf ihr Abhängigkeitspotential untersuchen: Subbassfrequenzen, die Zwerchfellbewegungen und Adrenalinausschüttung bewirken und damit den Spieler wachhalten. Intermittierende Verstärkung, also Belohnungsschemata, wie man sie vom Glücksspiel kennt und wie sie auch bei dem oben wegen seines hohen Abhängigkeitspotentials bereits erwähnten WOW auf mindestens vier Ebenen zum Einsatz kommen. Gruppendruck in der Gilde, gestützt durch Strafe und Belohnung in Form von DKP (Dragon Killing Points), ebenfalls bei WOW. Zusätzlich könnte man den
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