Medienmuendig
Cameron-Film
Avatar
einmal in ganz anderer Lesart anschauen: Jack Sully als Computerspielabhängiger, die Bulldozer-Szene als Schlüsselszene, aus der man viel über die Getriebenheit des Süchtigen lernen kann.
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Im Oberstufenunterricht der Philosophie oder Geschichte ließe sich am Beispiel der Erziehungsratgeber von Johanna Haarer, die in der NS-Zeit in keinem Haushalt mit Kindern fehlen durften, über die Gefahren einer »Erziehung zum Funktionieren« nachdenken. Haarer schreibt:
Vorüber sind die Zeiten, wo es erstes und oberstes Ziel aller Erziehung und Aufzucht war, nur die Eigenpersönlichkeit im Kind und Menschen zu vervollkommnen und zu fördern. Eins ist heute vor allem not, nämlich, dass jeder junge Staatsbürger und Deutsche zum nützlichen Glied der Volksgemeinschaft werde. 113
Am Erschrecken über Ratschläge zur Kindererziehung, die einen unmündigen, lenkbaren Volksgenossen zum erklärten Ziel haben, schärft sich der Blick für die Wichtigkeit einer Erziehung zur Mündigkeit. Die Psychologin Sigrid Chamberlain hat sich intensiv mit der Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Bindung für die Ausbildung einer autonomen Persönlichkeit beschäftigt.Sie analysiert die grausamen Ratschläge von Haarer und arbeitet heraus, inwieweit diese auf perverse Weise tatsächlich geeignet sind, menschlich zutiefst unsichere, aber folgsame und regimetreue Volksgenossen heranzuziehen. Erschreckend sind die aufscheinenden Parallelen zwischen den (gewollten) Konsequenzen einer nationalsozialistischen Erziehung und den (in Kauf genommenen) Konsequenzen exzessiven Bildschirmmedienkonsums. 114 Doch darüber zu schreiben ist hier nicht Thema, obwohl es sicherlich mindestens ein eigenes Buch wert wäre.
Wirklich die Wahl haben und eine Entscheidung treffen können − Selektionsfähigkeit
Das Wort »alternativlos« ist vor Kurzem zum Unwort des Jahres 2010 gekürt worden − mit Recht, denn Machthaber verwenden es und tun so, als gäbe es gar keine Wahlmöglichkeit, keine Alternativen zu der Idee, die sie vorschlagen. Schlimmer ist noch, wenn Entscheidungsfreiheit vorgegaukelt wird, wenn in Wirklichkeit gar keine besteht. Genau das droht derzeit mit dem Begriff »Selektionskompetenz« in der Medienpädagogik zu geschehen. Welchen Film möchte ich mir heute anschauen? Welches Computerspiel will ich kaufen? Mit welcher Software gestalte ich meine Homepage? Soll ich lieber Mails checken, mit dem Gameboy spielen oder chatten? Das zu entscheiden möchten engstirnige Medienpädagogen den Kindern möglichst früh beibringen und nennen diese Fähigkeit »Selektionskompetenz«, also die Fähigkeit, eine Auswahl zu treffen. Aber haben diese Fragen etwas mit Wahlfreiheit zu tun, mit der Auswahl zwischen wahrhaft verschiedenen Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten? Ja, schon. Allerdings nur etwa so viel wie die Frage, ob es irgendetwas mit artgerechter Tierhaltung zu tun hat, wenn die Hennen einer Legebatterie in rosa, grau oder hellblau angestrichenen Gitterkäfigen sitzen. Wenn die Hennen nie etwas anderes erlebt haben, dann empfinden sie es vielleichtals Gipfel der Selbstbestimmtheit, über die Käfigfarbe entscheiden zu dürfen.
Wirkliche Selektionsfähigkeit ist etwas anderes. Dazu zwei Beispiele als Gegenentwürfe, eines aus der Verbraucherberatung und eines aus der Freizeitwissenschaft, die auf den ersten Blick gar nichts mit Medien und auch nichts miteinander zu tun haben.
Was ist der Unterschied zwischen Abflussreiniger und Vorabendserie?
Um diese ebenso überraschende wie trickreiche Frage wird es auf den nächsten zwei Seiten gehen.
Zuerst zum Abflussreiniger: Als die Stiftung Warentest vor über 45 Jahren ihre Arbeit aufnahm, hatte man kurz zuvor noch ernste Zweifel geäußert, ob das Testen von Waren überhaupt nötig sei. In den 60er Jahren sah die Wirtschaft den Verbraucher durch Werbung ausreichend informiert – heute unglaublich, aber wahr. 115 Als man sich geeinigt hatte, dass Werbung als Informationsquelle über ein Produkt doch nicht ausreicht, wurden dann 1964 im ersten Heft der Stiftung Warentest Nähmaschinen und Handrührgeräte unter die Lupe genommen. Das waren Zeiten, in denen man davon ausgehen konnte, dass die Hausfrau wusste, was sie kaufen wollte (nämlich eine Nähmaschine). Für die Kaufentscheidung benötigte sie nur einen
Produktvergleich
, also einen Vergleich der verschiedenen Angebote in derselben Produktkategorie. Die Verbraucherin von heute dagegen sieht sich einer
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