Medienmuendig
Augen. Sie sollten den Text jetzt ohne Schwierigkeiten lesen können. Nun beginnen Sie, während des Lesens mit dem Kopf zuerst langsam, dann schneller hin- und herzuwackeln wie beim »Nein-Sagen«. Probieren Sie aus, wie schnell Sie wackeln und dabei immer noch den Text lesen können. Nun kommt Phase drei: Sie halten den Kopf wieder still und bewegen das Blatt stattdessen mit den Händen hin und her, ebenfalls zuerst langsam, dann schnell. Wie gut können Sie nun lesen? Und schließlich bitten Sie viertens einen anderen Menschen, das Blatt vor Ihren Augen hin- und herzubewegen, und Sie konzentrieren sich wieder aufs Lesen. Das sollte nun bedeutend schlechter gehen, oder? 102
Die sensomotorische Integration
Warum Sie zunehmend schlechter lesen können, obwohl die Relativbewegungen doch in allen drei Fällen etwa gleich sind, erklärt sich durch die Integration verschiedener Sinneseindrücke in der Wahrnehmung. In diesem Fall spielt die Koordination zwischen der Nacken- und der Augenmuskulatur eine besondere Rolle. Der Erwachsene hinkt mit seinen Augenbewegungen nicht »hinterher«, damit er das Gelesene nicht aus dem Blick verliert, sondern er gleicht die Nackenbewegung schon automatisch durch eine Gegenbewegung der Augenmuskeln aus, so dass das Blatt scheinbar stillsteht. Das kann ein Säugling noch nicht. Ein Baby, das erst einige Wochen alt ist, weiß nicht einmal, dass die merkwürdigen Vögel, die in seinem Blickfeld immer wieder »vorbeifliegen«, seine eigenen Hände sind. Stellen Sie sich also vor, dass das Baby, auch wenn es selbst den Kopfoder die Hand bewegt, die Wahrnehmung einer »wackelnden« Welt hat, wie Sie als Erwachsener das nur erleben, wenn jemand vor Ihrer Nase mit irgendetwas hin- und herwedelt. Das Experiment ist natürlich nur eine Hilfskonstruktion, um Erwachsenen erfahrbar zu machen, wie ein Baby die Welt sieht. Das Baby muss das Puzzle erst zusammensetzen, es muss Botschaften von Auge, Ohr, Nase, Mund und Haut unter einen Hut bringen.
Das nennt man »sensomotorische Integration«, Zusammenführung von Sinneseindrücken (Sensorik) und Bewegung (Motorik). Neben den fünf klassischen Sinnen Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen zählt man heute zu den Sinnen, die da »integriert« werden wollen, noch drei weitere: Der
Eigenbewegungssinn
ermöglicht uns beispielsweise, beide Zeigefingerspitzen vor unseren Augen zu treffen – auch wenn die Augen geschlossen sind. Probieren Sie es aus! Dann gehören zu den Sinnen noch der
Gleichgewichtssinn
, der oben und unten zu unterscheiden hilft, und der
Drehsinn
, der Relativbewegungen des Kopfes spürbar macht. Er ist es, der durcheinandergebracht wird, wenn wir uns schnell drehen und hinterher schwindelig fühlen. Und was meinen Sie, wie man die sensomotorische Integration optimal trainiert? Natürlich nicht, indem man hingeht und zum Säugling sagt: »Komm, Sabine, heute trainieren wir mal deine Nacken-Augenmuskel-Koordination.« Nein, das wird im ganz normalen Leben gelernt, am besten in Bewegung. 103 Wenn Sabine in die Hände klatscht, dann bewegt sie die Hände, spürt die Bewegung, sie hört, woher das Geräusch kommt, und sie sieht und spürt gleichzeitig auch, wie die beiden Hände sich berühren.
Nehmen wir dagegen an, Sabine sitzt vor dem Fernseher und sieht dort, wie ein Kind in die Hände klatscht. Da könnte sie zwar hören, wie es klatscht, allerdings käme der Klatscher nicht von genau der Stelle, wo sie auf dem Bildschirm die Berührung sieht, sondern von woanders her, nämlich aus dem Lautsprecher daneben. Manfred Spitzer (vgl. unten S. 227) beschreibt, wie die Wirkung einer solchen »Klang- und Bildsoße« sich auswirkenmuss. Da der Mensch in der Lage ist, mit den Augen auf Bruchteile von Winkelgraden genau räumlich zu sehen und auf Winkelgrade genau räumlich zu hören, ist diese Schwammigkeit der Integrationsleistung eindeutig abträglich.
Bildschirm-Erfahrungen bedeuten damit eine extreme Verarmung der Erfahrungen des kleinen Kindes − ganz davon abgesehen, dass am Bildschirm die Tiefendimension fehlt, dass man nichts anfassen kann und schon gar nichts riechen oder schmecken (S. 80).
Eigene Gestaltungskraft entwickeln − Produktionsfähigkeiten
Wie entwickelt sich bei einem Kind die Lust und die Fähigkeit zur Gestaltung, zur Produktion? Sie entstehen im Leben selbst, überall dort, wo sich Gestaltungsspielräume finden. Während manche Medienpädagogen dabei gern an Filmprojekte oder
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