Medienmuendig
darf nicht. Ich werde sozial ausgegrenzt, wenn ihr mir alles verbietet!« Da würden die Eltern bei einem klaren Nein bleiben. Warum werden sie dann bei den Medien wachsweich und setzen die Maßstäbe herunter? In der Klasse war der Maßstab eine Mischung aus dem, was die Jugendlichen unter dem Druck der über die Medien selbst vermittelten Werbung zu brauchen glaubten, und dem, was sie untereinander und unter dem Einfluss älterer Geschwister sowie Klassenkameraden aus schwierigen Verhältnissen ausgehandelt hatten. Nachdem die Eltern an jenem Abend miteinander über sich selbst gelacht hatten, wehte ein anderer Wind. »Es lohnt sich wirklich, dass wir als Eltern die Erziehung nicht immer mehr den Medien überlassen, sondern wieder mehr selbst in die Hand nehmen.« Das war die Stimmung im Raum. Dafür haben die Eltern oft ein gutesGespür, aber zu viel Gegenwind im Alltag. Dieser Gegenwind wäre aber wesentlich geringer, wie das obige Beispiel zeigt, wenn die Eltern offen miteinander sprechen würden.
Aber wenn man, wie Sibylle, die wir von weiter oben kennen, im Freundeskreis nachfragt und dann feststellt, dass die anderen tatsächlich »alle dürfen«, in diesem Fall eben, alle fernsehen dürfen? Dann heißt es Kompromisse finden. Sibylle will sich, wenn ihre Töchter etwas älter sind, mit ihnen gemeinsam vor den Fernseher setzen:
Fernsehen wird bei uns Einzug halten, so ab acht Jahren, mit Hinblick auf die Umwelt eben, weil sonst find ich dann die sozialen Nachteile, die entstehen, wenn sie nicht gucken dürfen, schwerwiegender, als wenn sie Fernsehen gucken.
Und bis dahin, in den ersten acht Jahren, wie soll das denn gehen? Damit kommen wir auf eine weitere wichtige soziale Frage im Zusammenhang mit Medien, wie sie in der folgenden Befürchtung deutlich wird: »Das Kind wird zu den Nachbarn gehen und dort all das tun, was du zu Hause verbietest!« Das ist einer der häufigsten Einwände gegen eine bildschirmfreie Erziehung. Im Grunde ist das ein sehr entscheidender und berechtigter Einwand. Die bildschirmfreie Phase am Anfang der Kindheit funktioniert nicht gut, wenn eine Familie sie im »Alleingang« durchboxen will. Wie oben bereits geschildert, liegt die Lösung darin, eben nicht durchzuboxen, sondern Gleichgesinnte zu suchen und die andersdenkenden Nachbarn nicht zu bekämpfen, sondern um Unterstützung zu bitten. Wichtig ist es dabei auch, sich klarzumachen, dass die »Abwanderung« der Kinder in vielen Fällen auch genau umgekehrt erfolgt: Mehrfach wurde in den Interviews berichtet, dass Nachbarskinder in großer Zahl in die bildschirmfreie Kinderstube kommen. Warum wohl? Vielleicht gefällt den Kindern, dass da weniger eine Atmosphäre von »sich unterhalten
lassen
« spürbar wird und mehr eine Stimmung von »selbst etwas zum Spielen entdecken«? Vielleicht schmecken aber auch einfach nur die selbstgebackenenMuffins so lecker, oder sie kommen wegen einer Verkleidungskiste oder eines Haustiers?
Wenn die Kinder einmal etwas älter sind, kann es übrigens auch sein, dass die Eltern eine kontrollierte Abwanderung zu den Nachbarn mit dem Fernseher/DVD-Player sogar begrüßen: In Gerds Familie, von der weiter oben die Rede war, finden die Eltern es eher praktisch, dass der große Sohn bei Nachbars Filme schauen kann. Durch das gute Verhältnis zu den Nachbarn gerät das auch nicht zur »unkontrollierten« Nutzung. Es trägt eher zur Entspannung bei, weil Gerd und Anita die Diskussion mit den drei Kleinen zu Hause nicht führen müssen.
Der Große ist jetzt fast 16, der guckt manchmal beim Nachbarn was: Aber jetzt auch nicht so aus dem Fernsehen, sondern dass man gezielt mal so ’ne DVD mitguckt. Das ist O. K. so, in dem Alter.
Was bei den Kindern den größten Unterschied machen wird zwischen der Chance, durch späte und dosierte Mediennutzung zu einem gemeinschaftsfähigen, verantwortungsvollen, medienmündigen jungen Menschen heranzuwachsen, und der Gefahr, unter genau denselben Bedingungen zum Außenseiter zu werden, liegt eben darin, ob schließlich ein Gefühl von Armut oder von Reichtum mit der »Mediendiät« einhergeht. Die Statistiken aus einigen vorangegangenen Kapiteln haben gezeigt, dass gebildete Eltern ihre Kinder wesentlich besser vor medialer Reizüberflutung schützen können. Statistisch gesehen sind der späte Beginn und die eingeschränkte Nutzung von Bildschirmmedien also eher »elitär« zu nennen, sie sind Zeichen von Reichtum und Bildung. Aber das ist hier mit
Weitere Kostenlose Bücher