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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Kopfkissen im Kreis darum ausgebreitet hatten. Jetzt legten sie sich hin. Hier oben unter dem Himmel ging ein kühler Wind.
    Martínez stand allein neben dem weißen Anzug. Er glättete die Aufschläge und sprach halb zu sich selbst.
    »Ay, caramba, was für ein Abend! Als wären zehn Jahre vergangen seit sieben Uhr, als alles anfing und ich noch keine Freunde hatte. Um zwei Uhr morgens habe ich alle möglichen Freunde…« Er schwieg und dachte, Celia Obregón, Celia Obregón. »… Alle möglichen Freunde«, fuhr er fort. »Ich habe ein Zimmer und ich habe etwas anzuziehen. Was soll ich noch sagen? Wißt ihr was?« Er sah sich nach den Männern um, die rund um ihn und die Schaufensterpuppe auf dem Dachboden lagen. »Es ist komisch. Wenn ich diesen Anzug trage, dann weiß ich, daß ich beim Billard gewinne wie Gómez. Frauen sehen mich so an, wie sie Domínguez ansehen. Ich kann so schön singen wie Manulo. Ich kann gescheit über Politik reden wie Villanazul. Ich bin stark wie Vamenos. Nun, also? Also bin ich heute abend mehr als Martínez. Ich bin Gómez, Manulo, Domínguez, Villanazul und Vamenos. Ich bin alle zusammen. Ay… ay.« Er stand noch eine Weile neben diesem Anzug, der sich rasch und unruhig bewegen konnte wie Gómez oder langsam und nachdenklich wie Villanazul oder dahinschweben konnte wie Domínguez, der nie den Boden berührte, der immer einen Wind fand, der ihn irgendwohin trieb. Dieser Anzug gehörte ihnen ebenso, wie sie alle ihm gehörten. Dieser Anzug, der war… was? Ein Prunkstück.
    »Martínez«, sagte Gómez, »willst du nicht schlafen?«
    »Natürlich, ich überlege nur gerade.«
    »Was?«
    »Wenn wir jemals reich werden«, sagte Martínez sanft, »ist das auch ein bißchen traurig. Dann haben wir alle Anzüge, es gibt keine Abende mehr wie diesen, und die alte Bande bricht auseinander. Danach ist es nicht mehr dasselbe.«
    Die Männer lagen da und dachten darüber nach.
    Gómez nickte. »Ja… es ist nicht mehr dasselbe… danach.«
    Martínez legte sich auf seine Decke. Er lag im Dunkeln neben den anderen, das Gesicht der Puppe zugewandt, die nun der Mittelpunkt ihres Lebens war.
    Und ihre Augen glänzten, und es war gut, sie in der Nacht zu sehen, während die Neonlichter von den Gebäuden in der Nähe aufflackerten, so daß ihr wunderbarer weißer Vanilleeis-Sommeranzug abwechselnd erstrahlte und erlosch.

 
Fiebertraum
     
     
     
    Sie legten ihn zwischen glatte, saubere Laken, und auf dem Tisch unter der matt scheinenden rosa Lampe stand immer ein Glas voll frisch ausgepreßtem, dickflüssigem Orangensaft. Charles brauchte nur nach Mama oder Papa zu rufen, dann steckten sie ihre Köpfe ins Zimmer, um zu sehen, wie krank er war. Die Akustik im Raum war ausgezeichnet; morgens hörte man die Porzellankehle der Toilette gurgeln, man hörte, wie der Regen auf das Dach klopfte, flinke Mäuse durch die geheimen Wände liefen und der Kanarienvogel unten in seinem Käfig sang. Wenn man sehr feine Ohren hatte, war das Kranksein gar nicht so schlimm.
    Charles war dreizehn. Es war Mitte September, und das Land begann herbstlich zu glühen. Er lag drei Tage lang im Bett, bevor der Schrecken ihn überfiel.
    Seine Hände veränderten sich. Seine rechte Hand. Er sah sie an. Sie war heiß und lag schwitzend auf der Bettdecke. Sie zitterte und bewegte sich leicht. Dann wurde sie still und verfärbte sich.
     
     
    An diesem Nachmittag kam der Arzt wieder; er klopfte auf Charles’ magere Brust wie auf eine kleine Trommel. »Wie geht es dir?« fragte er lächelnd. »Ich weiß, du brauchst es mir gar nicht zu sagen: ›Meiner Erkältung geht es gut, Herr Doktor, aber ich fühle mich scheußlich!‹ Haha!« Er lachte über seinen eigenen, oft wiederholten Witz.
    Und nun wurde dieser furchtbare, veraltete Witz für Charles zur Wirklichkeit. Er setzte sich in seinem Kopf fest. Seine Seele berührte ihn und schrak in bleichem Entsetzen vor ihm zurück. Der Arzt wußte ja gar nicht, wie grausam er mit seinen Späßen war! »Herr Doktor«, flüsterte Charles, der flach und bleich dalag. »Meine Hand gehört nicht mehr zu mir. Heute morgen hat sie sich in etwas anderes verwandelt. Ich möchte, daß Sie sie zurückverwandeln, Herr Doktor!«
    Der Arzt entblößte die Zähne und tätschelte Charles’ Hand. »Ich finde, sie sieht gut aus, mein Sohn. Du hattest nur einen kleinen Fiebertraum.«
    »Aber sie hat sich verwandelt, Herr Doktor«, rief Charles und hielt seine blasse, bebende Hand mitleiderregend in die

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