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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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ihn.
    »Ich muß es Ihnen sagen, Herr Doktor, unbedingt!« rief er. »Was würde geschehen, stellen Sie sich das doch nur mal vor, wenn eine Menge Mikroben sich zusammentäten und einen Haufen bilden wollten und sich vervielfachen und immer mehr Mikroben hervorbrächten…«
    Seine weißen Hände lagen jetzt auf seiner Brust und krochen auf seinen Hals zu.
    »Und wenn sie beschließen würden, einen Menschen zu erobern!« rief Charles.
    »Einen Menschen zu erobern?«
    »Ja, ein Mensch zu werden. Ich zu werden, meine Hände und meine Füße! Wenn eine Krankheit nun einen Menschen töten und trotzdem noch nach ihm weiterleben könnte?«
    Er schrie auf. Die Hände fuhren ihm an den Hals.
    Der Arzt stürzte ans Bett.
     
     
    Um neun Uhr begleiteten die Eltern den Arzt zum Wagen und reichten ihm die Tasche. Ein paar Minuten lang unterhielten sie sich im kühlen Nachtwind. »Achten Sie nur darauf, daß seine Hände festgeschnallt bleiben«, sagte der Arzt. »Ich möchte nicht, daß er sich verletzt.«
    »Kann ihm auch nichts passieren, Herr Doktor?« Die Mutter klammerte sich einen Augenblick an seinen Arm.
    Er klopfte ihr auf die Schulter. »War ich nicht dreißig Jahre lang Ihr Hausarzt? Es ist das Fieber. Er bildet sich das alles ein.«
    »Aber die Quetschungen an seinem Hals – er hat sich ja fast erwürgt.«
    »Lassen Sie ihn nur angeschnallt. Morgen wird es ihm besser gehen.«
    Der Wagen fuhr die dunkle Septemberstraße hinunter.
     
     
    Um drei Uhr morgens lag Charles immer noch in seinem kleinen Zimmer wach. Das Bettuch unter dem Kopf und Rücken war feucht. Ihm war sehr warm. Jetzt hatte er keine Arme und Beine mehr, und sein Körper verwandelte sich weiter. Er rührte sich nicht, sondern starrte mit irrer Konzentration zur leeren Decke hinauf. Eine Zeitlang hatte er geschrien und sich hin und her gewälzt, aber jetzt war er geschwächt und heiser, und seine Mutter war mehrmals aufgestanden, um seine Stirn mit einem nassen Lappen zu kühlen. Er lag still, die Hände festgeschnallt.
    Er fühlte, wie die Wände seines Körpers und die Organe sich veränderten, wie die Lungen Feuer fingen wie ein brennendes Gebläse, das rosa Alkohol pumpte. Das Zimmer war erhellt von einem flackernden Herd.
    Jetzt hatte er keinen Körper mehr. Er war nicht mehr da. Er lag unter ihm, aber erfüllt vom mächtigen Pulsschlag eines brennenden, trägemachenden Rauschmittels. Es war, als hätte eine Guillotine seinen Kopf fein säuberlich abgetrennt, als läge sein Kopf leuchtend auf einem Kissen im Nachtdunkel, während der Körper darunter, der immer noch lebte, jemand anders gehörte. Die Krankheit hatte seinen Körper aufgezehrt und eine fiebrige Nachbildung von ihm hervorgebracht. Da waren die kleinen Hände und Haare, die Fingernägel und die Schrammen, die Fußnägel und das winzige Muttermal auf der rechten Hüfte, alles vollendet nachgeschaffen.
    Ich bin tot, dachte er. Man hat mich getötet, und dennoch lebe ich. Mein Körper ist tot, er besteht nur noch aus Krankheit, und niemand wird es merken. Ich werde herumgehen, und er wird nicht ich sein, er ist etwas anderes. Er wird etwas ganz Schlechtes, ganz Böses sein, so mächtig und böse, daß man es kaum ausdenken und verstehen kann. Etwas, das sich Schuhe kaufen und Wasser trinken und vielleicht eines Tages heiraten kann und in der Welt mehr Böses anrichten wird, als je zuvor getan wurde.
    Jetzt kroch die Wärme in seinen Hals, in seine Wangen hinauf wie heißer Wein. Seine Lippen brannten, seine Lider fingen Feuer wie Blätter. Seine Nasenflügel atmeten ganz schwach blaue Flammen aus.
    Das ist das Ende, dachte er. Es ergreift meinen Kopf und mein Hirn, und es setzt sich in jedem Auge und jedem Zahn und in allen Fasern meines Hirns fest, in jedem Haar und jeder Falte meiner Ohren, und von mir wird nichts übrigbleiben.
    Er fühlte, wie sein Hirn sich mit siedendem Quecksilber füllte. Er spürte, wie sein linkes Auge sich zusammenpreßte und wie eine Schnecke herauskroch. Er war auf dem linken Auge blind. Es gehörte nicht mehr zu ihm. Es war feindliches Gebiet. Seine Zunge war herausgeschnitten, seine linke Wange empfindungslos, nicht mehr da. Sein linkes Ohr hörte nicht mehr. Es gehörte nun jemand anders. Diesem Etwas, das jetzt geboren wurde, diesem Etwas aus Mineralien, das an die Stelle des Baumstamms trat, dieser Krankheit, die gesunde tierische Zellen verdrängte.
    Er versuchte zu schreien, und er schrie laut und gellend, als sein Gehirn hinabfloß, sein rechtes

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