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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Auge und rechtes Ohr herausgeschnitten wurden, und dann war er blind und taub, nur noch Feuer, Angst und Tod.
    Sein Schrei brach ab, bevor seine Mutter durch die Tür an sein Bett eilen konnte.
     
     
    Es war ein schöner, klarer Morgen, mit einem frischen Wind, der den Arzt den Pfad zum Haus hinaufschob. Oben am Fenster stand der Junge, fertig angezogen. Der Arzt winkte ihm zu und rief: »Was ist denn das? Schon auf? Mein Gott!«
    Der Arzt lief beinahe die Stufen hinauf und trat keuchend ins Schlafzimmer.
    »Warum bist du nicht mehr im Bett?« fragte er den Jungen. Er klopfte ihm die magere Brust ab, fühlte ihm den Puls und maß seine Temperatur. »Einfach erstaunlich! Alles normal, bei Gott, völlig normal!«
    »Ich werde nie im Leben wieder krank sein«, erklärte der Junge ruhig und schaute aus dem Fenster. »Nie mehr.«
    »Das hoffe ich auch. Du siehst ja auch prächtig aus, Charles.«
    »Herr Doktor?«
    »Ja, Charles?«
    »Darf ich heute zur Schule gehen?« fragte Charles.
    »Morgen ist es noch früh genug. Du bist ja wirklich eifrig.«
    »Bin ich auch. Ich mag die Schule gern. All die Kinder. Ich möchte mit ihnen spielen, mich mit ihnen raufen und sie bespucken, mit den Pferdeschwänzen der Mädchen spielen, dem Lehrer die Hand schütteln und meine Hände an allen Mänteln in der Garderobe abwischen. Und ich möchte groß werden und reisen und überall in der Welt den Leuten die Hände schütteln, ich möchte verheiratet sein und viele Kinder haben, in Bibliotheken gehen und Bücher in die Hand nehmen und… all das möchte ich!« sagte der Junge, der in den Septembermorgen hinausblickte. »Wie haben Sie mich noch genannt?«
    »Was sagst du da?« fragte der Arzt verwundert. »Ich habe dich nur Charles genannt.«
    »Das ist wohl immer noch besser als gar kein Name.« Der Junge zuckte die Achseln.
    »Ich freue mich, daß du in die Schule gehen willst«, sagte der Arzt.
    »Ich kann es kaum noch abwarten«, antwortete der Junge lächelnd. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Herr Doktor. Lassen Sie mich Ihre Hand schütteln.«
    »Aber gern.«
    Sie schüttelten einander ernst die Hand, und der reine Wind wehte durch das offene Fenster herein. Sie schüttelten einander fast eine Minute lang die Hand, und der Junge blickte lächelnd zu dem alten Mann hinauf und dankte ihm.
    Dann jagte der Junge den Arzt lachend die Treppe hinunter und hinaus an seinen Wagen. Seine Eltern kamen nach, um fröhlichen Abschied zu nehmen.
    »Wie ein Fisch im Wasser«, sagte der Arzt. »Unglaublich!«
    »Und stark«, sagte der Vater. »Er hat sich über Nacht selbst aus den Riemen losgemacht. Nicht wahr, Charles?«
    »Hab ich das?« fragte der Junge.
    »Ja. Wie hast du das nur angestellt?«
    »Oh«, sagte der Junge. »Das ist lange her.«
    »Lange her!«
    Sie lachten alle, und während sie lachten, bewegte der Junge langsam den nackten Fuß auf dem Gehsteig hin und her und strich leicht über ein paar rote Ameisen, die auf dem Stein langkrochen. Unbeobachtet, mit glänzenden Augen, sah er, während seine Eltern mit dem alten Mann plauderten, wie die Ameisen zögerten, zitterten und still auf dem Zement liegenblieben. Er ahnte, daß sie kalt waren.
    »Auf Wiedersehen!«
    Der Arzt fuhr winkend davon.
    Der Junge ging vor seinen Eltern her. Er sah zur Stadt hinüber und summte leise das Lied »Schultage«.
    »Wie gut, daß er wieder gesund ist«, sagte der Vater.
    »Hör nur. Er freut sich ja so sehr auf die Schule.«
    Der Junge drehte sich um. Er umarmte seine Eltern stürmisch und küßte sie mehrmals.
    Dann hüpfte er wortlos die Stufen hinauf ins Haus.
    Im Wohnzimmer öffnete er, bevor die beiden nachkamen, rasch den Vogelkäfig, steckte die Hand hinein und streichelte den gelben Kanarienvogel, nur einmal.
    Dann schloß er die Käfigtür, trat zurück und wartete.

 
Der Eheretter
     
     
     
    An der Sonne glich das Kopfbrett, das Federbüsche hellen Lichts emporschleuderte, einem Brunnen. Es war mit geschnitzten Löwen, Wasserspeiern und bärtigen Ziegen verziert – ein ehrfurchtgebietender Gegenstand, selbst um Mitternacht, als Antonio sich auf das Bett setzte, die Schnürbänder seiner Schuhe löste und seine große schwielige Hand ausstreckte, um die schimmernde Harfe zu berühren. Dann rollte er sich in diese phantastische Traummaschine hinein, blieb schweratmend liegen, und die Augen fielen ihm zu.
    »Wir schlafen jede Nacht in einer Zirkusorgel«, sagte die Stimme seiner Frau.
    Es verletzte ihn, daß sie sich beklagte. Er lag

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