Medizin für Melancholie
Höhe. »Ganz bestimmt.«
Der Arzt zwinkerte ihm zu. »Ich gebe dir eine rosa Pille für sie.«
Er legte eine Tablette auf Charles’ Zunge. »Schluck!«
»Wird sie meine Hand zurückverwandeln, so daß sie wieder ich ist?«
»Ja, ja.«
Das Haus war ruhig, als der Arzt unter dem stillen blauen Septemberhimmel in seinem Wagen die Straße hinunterfuhr. Eine Uhr tickte weit unten in der Welt der Küche. Charles betrachtete seine Hand.
Sie verwandelte sich nicht zurück. Sie war immer noch etwas anderes.
Draußen wehte der Wind. Blätter wirbelten gegen das kühle Fenster.
Um vier Uhr verwandelte sich auch seine andere Hand. Es war wie ein Fieber. Sie pulsierte und veränderte sich, Zelle um Zelle. Sie pochte wie ein warmes Herz. Die Fingernägel wurden zuerst blau und dann rot. Die Verwandlung dauerte ungefähr eine Stunde, und als sie zu Ende war, sah die Hand genauso aus wie eine gewöhnliche Hand. Aber sie war nicht gewöhnlich. Sie war nicht länger er. Er lag halb fasziniert, halb entsetzt da und sank dann in einen Schlaf der Erschöpfung.
Um sechs brachte die Mutter die Suppe. Er rührte sie nicht an.
»Ich habe keine Hände«, sagte er mit geschlossenen Augen.
»Deine Hände sind völlig in Ordnung«, antwortete die Mutter.
»Nein«, wimmerte er. »Meine Hände sind weg. Mir ist, als hätte ich nur noch Stümpfe. Ach, Mama, halt mich, halt mich fest, ich habe Angst!«
Sie mußte ihn füttern.
»Mama«, sagte er, »bitte, hol den Doktor wieder. Ich bin so krank.«
»Der Doktor kommt heute abend um acht«, sagte sie und ging hinaus.
Um sieben, als die Nacht dicht und dunkel das Haus umhüllte, setzte sich Charles im Bett auf und fühlte, wie es zuerst im einen Bein und dann im anderen Bein geschah. »Mama, komm schnell!« schrie er gellend.
Aber als die Mama kam, geschah nichts mehr.
Nachdem sie hinuntergegangen war, lehnte er sich zurück und wehrte sich nicht mehr, als es in seinen Beinen pochte und pochte und sie warm wurden, glühten und das Zimmer sich mit der Wärme seiner fiebrigen Verwandlung füllte. Die Glut kroch von seinen Zehen in die Knöchel und von da bis zu den Knien hinauf.
»Darf ich reinkommen?« Der Arzt trat lächelnd ein.
»Herr Doktor«, rief Charles. »Schnell, ziehen Sie meine Decken fort.«
Der Arzt hob geduldig die Decken. »Da bist du ja. Heil und gesund. Schwitzen tust du allerdings. Ein leichtes Fieber. Ich habe dir doch gesagt, du solltest ruhig liegen, du böser Junge.« Er kniff ihn in die feuchte rosige Wange. »Haben die Pillen geholfen? Hat deine Hand sich zurückverwandelt?«
»Nein, nein, jetzt verändern sich auch die Beine und die andere Hand!«
»Schon gut, schon gut, ich muß dir also noch drei Pillen geben, eine für jedes Glied, nicht wahr, mein kleiner Pfirsich?« sagte der Arzt lachend.
»Helfen sie denn auch? Bitte, bitte. Was habe ich eigentlich?«
»Es ist ein leichter Scharlachanfall, ein bißchen kompliziert durch deine Erkältung.«
»Ist das ein Keim, der lebt und mehr kleine Keime in sich trägt?«
»Ja.«
»Sind Sie auch sicher, daß es Scharlach ist? Sie haben ja gar keinen Test gemacht!«
»Ich glaube, ich erkenne ein bestimmtes Fieber, wenn ich es sehe«, antwortete der Doktor und fühlte dem Jungen mit kühler Überlegenheit den Puls.
Charles blieb stumm liegen, bis der Arzt energisch seine schwarze Medikamententasche packte. Da erhob sich die Stimme des Knaben dünn und schwach im stillen Zimmer, und in seinen Augen leuchteten Erinnerungen auf. »Ich habe mal ein Buch gelesen über versteinerte Bäume und Holz, das sich in Stein verwandelte. Die Bäume fielen um und vermoderten, und Mineralien drangen hinein und wuchsen und sahen genauso aus wie die Bäume, aber sie sind keine, sie sind Steine.« Er hielt inne. Man hörte seinen Atem.
»Nun, und?« fragte der Arzt.
»Ich habe darüber nachgedacht«, fuhr Charles nach einer Weile fort. »Werden Keime jemals größer? Ich meine, in der Biologiestunde haben sie uns von einzelligen Tieren erzählt, Amöben und solchen Dingen, wie die vor Millionen Jahren zusammenkamen, bis ein Haufen da war und sie den ersten Körper bildeten. Und es kamen immer mehr Zellen dazu, und sie wurden größer, und schließlich war da vielleicht ein Fisch, und jetzt sind wir da, und wir sind doch nur ein Haufen Zellen, die beschlossen haben, sich zusammenzutun, um einander zu helfen. Stimmt das?« Charles befeuchtete seine fiebrigen Lippen.
»Was soll das alles?« Der Arzt beugte sich über
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