Medizin für Melancholie
Bürgersteig zurück.
Im Hause holte Martínez das Reinigungsmittel; die anderen standen um ihn herum und erklärten ihm, wie er den Anzug zu säubern habe, und später, daß er das Bügeleisen nicht zu heiß werden lassen dürfe und wie er die Aufschläge und die Bügelfalte und das alles behandeln sollte. Als der Anzug gereinigt und gebügelt war, so daß er aussah wie eine frische, eben erblühte Gardenie, zogen sie ihn über die Schaufensterpuppe.
»Zwei Uhr«, murmelte Villanazul. »Ich hoffe, Vamenos schläft ruhig. Als ich vom Krankenhaus wegging, sah er gut aus.«
Manulo räusperte sich. »Heute abend geht aber niemand mehr mit dem Anzug aus, wie?«
Die anderen glotzten ihn an.
Manulo errötete. »Ich meine… es ist schon spät. Wir sind müde. Vielleicht will in den nächsten achtundvierzig Stunden niemand den Anzug anziehen. Laßt ihn ausruhen. Gut. Wo wollen wir schlafen?«
Da die Nacht noch heiß war und die Luft im Zimmer unerträglich, nahmen sie den Anzug auf der Puppe mit hinaus in den Flur. Sie holten ein paar Kissen und Decken und kletterten die Stufen zum Dach hinauf. Da finden wir kühlere Luft und Schlaf, dachte Martínez.
Sie kamen an mehreren offenstehenden Türen vorbei. Die Leute waren noch wach und schwitzten; sie spielten Karten, tranken Limonade und fächelten sich mit Filmzeitschriften Kühlung zu.
Ich möchte wissen, dachte Martínez, ich möchte nur wissen, ob… ja!
Im vierten Stock stand eine bestimmte Tür offen.
Das schöne Mädchen blickte auf, als die Männer vorbeigingen. Sie trug ihre Brille, aber als sie Martínez bemerkte, riß sie sie vom Gesicht und versteckte sie unter ihrem Buch.
Die anderen gingen weiter und wußten nicht, daß sie Martínez verloren hatten, der in der offenen Tür stehengeblieben war.
Dann sagte er:
»José Martínez.«
Und sie: »Celia Obregón.«
Er hörte, wie die Männer oben auf dem Dach hin und her gingen, und machte eine Bewegung, um ihnen zu folgen.
Sie sagte rasch: »Ich habe Sie heute abend gesehen!«
Er kam zurück.
»Den Anzug«, sagte er.
»Den Anzug«, sagte sie und nach einer Weile: »Und doch nicht den Anzug.«
»Wie?«
Sie hob das Buch und zeigte ihm die Brille in ihrem Schoß.
»Ich sehe nicht gut. Man sollte wohl meinen, daß ich meine Brille trage, aber nein. Ich laufe schon jahrelang so herum, verstecke sie und sehe nichts. Aber heute abend sehe ich sogar ohne Brille. Etwas sehr Weißes geht unten im Dunkeln vorbei. Da setze ich schnell meine Brille auf!«
»Den Anzug, ich sagte es ja schon«, antwortete Martínez.
»Einen Augenblick lang der Anzug, ja, aber über dem Anzug ist noch etwas Weißes.«
»Noch etwas?«
»Ihre Zähne! Ach, solche weißen Zähne, und so viele!«
Martínez legte die Hand auf den Mund.
»Wie glücklich Sie sind, Herr Martínez«, sagte sie. »Ich habe nicht oft ein so glückliches Gesicht und solch ein Lächeln gesehen.«
»Aber«, sagte er, unfähig, sie anzublicken, und sein Gesicht rötete sich.
»Da sehen Sie es«, fuhr sie ruhig fort. »Der Anzug ist mir zwar aufgefallen, daß Weiß erfüllte die Nacht dort unten. Aber die Zähne waren noch viel weißer. Darüber habe ich den Anzug vergessen.«
Martínez errötete wieder. Sie war jetzt ebenfalls verwirrt durch ihre Worte, setzte die Brille auf, nahm sie unruhig wieder ab und versteckte sie. Dann blickte sie auf ihre Hände und auf die Tür.
»Darf ich sagen«, sagte er schließlich.
»Sie dürfen…?«
»Darf ich wieder vorbeikommen«, fragte er, »wenn ich den Anzug das nächste Mal anziehen kann?«
»Warum müssen Sie denn auf den Anzug warten?«
»Ich dachte…«
»Sie brauchen ihn nicht«, sagte sie.
»Aber…«
»Wenn es nur der Anzug wäre«, sagte sie, »in dem kann jeder gut aussehen. Aber ich habe achtgegeben. Ich habe heute abend viele Männer, lauter verschiedene, in diesem Anzug gesehen. Darum sage ich noch mal, Sie brauchen nicht auf den Anzug zu warten.«
»Madre mía, madre mía!« rief er glücklich. Und dann ruhiger: »Ich brauche den Anzug noch eine Weile. Einen Monat, sechs Monate, ein Jahr. Ich bin unsicher. Ich fürchte mich vor vielen Dingen. Ich bin noch jung.«
»Das ist auch recht so«, sagte sie.
»Gute Nacht, Fräulein…«
»Celia Obregón.«
»Celia Obregón«, wiederholte er und war aus der Tür verschwunden.
Die anderen warteten auf dem Dach. Martínez, der durch die Falltür heraufkam, sah, daß sie die Puppe mit dem Anzug mitten auf dem Dach aufgestellt und ihre Decken und
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