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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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mit der freien Hand über die Tür, so leicht, daß er kaum Staub aufwirbelte.
    »Miss Fremwell?«
    Er schaute unter der Schwelle nach, um festzustellen, ob dahinter allzu viele Lampen brannten, deren Licht auf ihn fallen könnte, wenn sie die Tür weit aufriß. Allein der Aufprall des Lampenlichts konnte seine Hand fortstoßen und die eingesunkene Wunde entblößen. Und konnte sie dann nicht vielleicht wie durch ein Schlüsselloch in sein Leben hineinblicken?
    Aber das Licht unter der Schwelle war matt.
    Er ballte seine Hand zur Faust und klopfte dreimal leicht an Miss Fremwells Tür.
    Die Tür wurde geöffnet und langsam zurückgezogen.
    Später auf der Veranda vor dem Haus versuchte er schwitzend und nervös, seine empfindungslos gewordenen Beine so und wieder anders stellend, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Als der Mond hochstieg, sah das Loch in seiner Stirn aus wie der Schatten eines Blattes. Wenn er ihr nur das Profil zuwandte, blieb der Krater unsichtbar; er lag auf der anderen Seite seiner Welt verborgen. Aber es schien, als fühlte er sich nur halbwegs als Mann und fände nur halb so viele Worte, wenn er es tat.
    »Miss Fremwell«, brachte er endlich hervor.
    »Ja?« Sie sah ihn an, als könnte sie ihn nicht deutlich erkennen.
    »Miss Naomi, ich glaube, Sie haben mich in der letzten Zeit nicht so richtig bemerkt.«
    Sie wartete. Er fuhr fort.
    »Ich habe Sie aber bemerkt. Das heißt, na ja, am besten sage ich es geradeheraus, dann habe ich es hinter mir. Wir haben schon ein paar Monate lang hier draußen auf der Veranda gesessen. Ich meine, wir kennen uns schon seit langem. Sie sind zwar gute fünfzehn Jahre jünger als ich, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns verlobten?«
    »Ich danke Ihnen, Mister Lemon«, sagte sie rasch. Sie war sehr höflich. »Aber ich…«
    »Oh, ich weiß«, antwortete er und drängte mit den Worten voran. »Ich weiß! Es ist mein Kopf, es ist immer dieses verdammte Ding da oben an meinem Kopf!«
    Sie blickte im trüben Licht auf sein abgewandtes Profil.
    »Aber nein, Mister Lemon, das würde ich nicht sagen, ich glaube nicht, daß es das ist. Gewiß habe ich mich schon gefragt, was das wohl sein mag, aber ich glaube nicht, daß es in irgendeiner Weise stört. Ich erinnere mich, daß eine meiner Freundinnen, eine sehr liebe Freundin von mir, einen Mann heiratete, der ein Holzbein hatte. Sie sagte mir, nach einer Weile hätte sie das gar nicht mehr bemerkt.«
    »Es ist immer dieses verdammte Loch«, rief Mr. Lemon erbittert. Er nahm ein Bündel Tabak heraus, sah es an, als wollte er hineinbeißen, entschloß sich jedoch anders und steckte es fort. Er ballte die Fäuste und starrte sie traurig an, als wären sie zwei Steine. »Also dann erzähle ich Ihnen alles, Miss Naomi. Ich erzähle Ihnen, wie es dazu kam.«
    »Das brauchen Sie nicht, wenn Sie nicht möchten.«
    »Ich war schon einmal verheiratet, Miss Naomi. Ja, verdammt, das war ich. Und eines Tages nahm meine Frau einfach einen Hammer und schlug mir damit auf den Kopf!«
    Miss Fremwell erschrak, als hätte man sie selbst geschlagen.
    Mr. Lemon hieb mit einer geballten Faust durch die Luft.
    »Jawohl, Madam, sie schlug einfach mit dem Hammer auf mich los, das tat sie. Ich sage Ihnen, die Welt barst um mich her. Alles stürzte über mir zusammen. Es war, als bräche das ganze Haus ein. Dieser kleine Hammer hat mich begraben, ja, begraben! Die Schmerzen kann ich Ihnen gar nicht beschreiben!«
    Miss Fremwell krümmte sich beinahe. Sie schloß die Augen, überlegte einen Augenblick und biß sich auf die Lippen. Dann sagte sie: »Oh, armer Mister Lemon.«
    »Sie tat es ganz ruhig«, sagte Mr. Lemon verwirrt. »Sie stand einfach über mir, wie ich auf der Couch lag – es war an einem Dienstagnachmittag um zwei Uhr –, und sagte: ›Andrew, wach auf!‹, und ich öffnete die Augen und sah sie an, und dann schlug sie mich mit dem Hammer. O Gott.«
    »Aber, warum?« fragte Miss Fremwell.
    »Es gab keinen, überhaupt keinen Grund dafür. Ach, was für eine gemeine Frau.«
    »Aber wie konnte sie so etwas nur tun?« fragte Miss Fremwell.
    »Ich sagte Ihnen ja: es gab keinen Grund dafür.«
    »War sie verrückt?«
    »Muß sie wohl. O ja, muß sie wohl gewesen sein.«
    »Haben Sie sie verklagt?«
    »Nein, nein, das nicht. Schließlich wußte sie nicht, was sie tat.«
    »Sind Sie zusammengebrochen?«
    Mr. Lemon schwieg eine Weile, und da sah er es wieder, so deutlich, so groß – die alte Erinnerung. Und wie er es sah, sprach er

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