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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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jedoch nicht entschließen, die Tür zu öffnen und die Umwelt zu überraschen. Er ging am Spiegel vorbei und blickte zur Seite, zu jemand hinüber, der dort vorbeiging und jedesmal lachte und den Kopf schüttelte. Dann setzte er sich in den Schaukelstuhl, schaukelte grinsend und versuchte ein paar Nummern des Wild West Weekly und des Thrilling Movie Magazine durchzublättern. Aber er konnte nicht verhindern, daß seine rechte Hand zitternd zu seinem Gesicht hinaufkroch, um den Rand des knisternden Schilfs oberhalb seiner Ohren zu betasten.
    »Ich werde dir einen Drink spendieren, junger Mann!«
    Er öffnete den von Fliegen beschmutzten Arzneischrank und trank drei Schluck aus einer Flasche. Als er eben mit tränenden Augen einen Mundvoll Kautabak zurechtschneiden wollte, hielt er inne und lauschte.
    Draußen im dunklen Gang hörte er ein Geräusch wie eine Feldmaus, die leise über den fadenscheinigen Teppich trippelte.
    »Miss Fremwell!« sagte er zu seinem Spiegelbild.
    Plötzlich war das Toupet von seinem Kopf verschwunden und in der Schachtel, als hätte es sich erschreckt vor sich selbst zurückgezogen. Er klappte den Deckel zu; ihm brach der kalte Schweiß aus, denn er fürchtete sogar das Geräusch, das diese Frau verursachte, wenn sie vorbeiwehte wie eine Sommerbrise.
    Er schlich auf Zehenspitzen an eine zugenagelte Tür und beugte seinen kahlen, jetzt heftig errötenden Kopf. Er hörte, wie Miss Fremwell ihre Tür öffnete und schloß und sich dann mit leise klirrendem Porzellan und klappernden Bestecken in ihrem Zimmer wie im Karussell herumdrehte, um das Abendessen zu bereiten. Er zog sich von der Tür zurück, die verschlossen und verriegelt und dann mit zwölf Zentimeter langen Stahlnägeln vernagelt war. Er dachte an die Nächte, da er im Bett zusammengezuckt war, weil er meinte, er höre, wie sie leise die Nägel herauszog, den Bolzen entfernte und den Riegel zurückschob… Und er dachte daran, daß er jedesmal eine Stunde brauchte, bis er danach wieder einschlief.
    Jetzt würde sie etwa eine Stunde lang in ihrem Zimmer hin und her gehen. Es würde dunkel werden. Die Sterne würden herauskommen und leuchten, wenn er an ihre Tür klopfte und fragte, ob sie vielleicht auf der Veranda sitzen oder im Park spazieren gehen wolle. Dann konnte sie das dritte, blinde und starre Auge in seinem Kopf nur noch entdecken, indem sie mit der Hand darübertastete. Aber ihre kleinen weißen Finger hatten sich niemals näher als im Umkreis von tausend Meilen von jener Wunde bewegt, und diese war für sie also nichts weiter als, nun ja, eine jener Pockennarben auf dem Vollmond heute abend. Er stieß mit der Zehe an eine Nummer der Wonder Science Tales. Er schnaufte. Vielleicht meinte sie, wenn sie überhaupt an seinen verletzten Kopf dachte – sie schrieb doch ab und zu Lieder und Gedichte, nicht wahr? –, daß vor langer Zeit einmal ein Meteorit heruntergefallen war und ihn getroffen hatte, um dann wieder dort oben zu verschwinden, wo es kein Gestrüpp und keine Bäume gab, wo es nur weiß war, über seinen Augen. Er schnaufte wieder und schüttelte den Kopf. Vielleicht, vielleicht. Aber was immer sie dachte, er würde sie erst nach Sonnenuntergang sehen.
    Er wartete noch eine Stunde und spuckte dann und wann aus dem Fenster in die warme Sommernacht.
    »Halb neun. Jetzt gehe ich.«
    Er öffnete die Flurtür, blieb einen Augenblick stehen und blickte zurück auf das schöne neue Toupet, das in seiner Schachtel verborgen lag. Nein, er brachte es noch nicht fertig, es zu tragen.
    Er ging durch den Flur zu Miss Naomi Fremwells Tür, eine Tür, die aus so dünnem Holz gemacht war, daß man das Pochen ihres kleinen Herzens dahinter zu hören meinte.
    »Miss Fremwell«, flüsterte er.
    Er hätte sie am liebsten wie einen kleinen weißen Vogel in seine großen hohlen Hände nehmen und leise mit ihr reden mögen. Aber als er sich dann den plötzlich ausbrechenden Schweiß von der Stirn wischte, fand er die Narbe wieder und rettete sich gerade noch im letzten Moment davor, daß er vornüber in das Loch hineinfiel. Er legte die Hand auf die Stelle, um die Leere zu bedecken. Nachdem er die Hand eine Zeitlang fest auf das Loch gepreßt hatte, wagte er nicht, sie wieder fortzunehmen. Es war jetzt anders geworden. Er fürchtete nicht mehr, daß er in das Loch hineinfallen könnte, sondern er fürchtete, daß etwas Schreckliches, etwas Unbekanntes, etwas ganz Persönliches daraus hervorbrechen und ihn ertränken könnte.
    Er strich

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