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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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drangen jetzt herüber, als hätte man sie lauter geschaltet; eine Zeitlang waren sie ganz leise gewesen. Miss Fremwell atmete tief ein und aus.
    »Wie Sie selbst sagen, Mister Lemon: mit Streit hat noch niemand etwas erreicht.«
    »Genau!« sagte er. »Ich bin verträglich, ich sage Ihnen…«
    Aber Miss Fremwell hatte die Lider gesenkt, und ihr Mund sah merkwürdig aus. Er spürte es und brach ab.
    Ihr helles Sommerkleid und seine Hemdsärmel flatterten im aufkommenden Nachtwind.
    »Es ist spät«, sagte Miss Fremwell.
    »Erst neun Uhr!«
    »Ich muß morgen früh aufstehen.«
    »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Miss Fremwell?«
    »Ihre Frage?« Sie blinzelte. »Ach ja, die Frage. Ja.« Sie erhob sich aus ihrem Korbstuhl und tastete im Dunkeln nach dem Griff der Moskitotür. »Ach, Mister Lemon, lassen Sie mich darüber nachdenken.«
    »Das ist wenigstens ehrlich«, sagte er. »Kein Zweck, sich deswegen zu streiten, wie?«
    Die Tür wurde geschlossen. Er hörte, wie sie sich im dunklen Flur ihren Weg suchte. Er atmete flach und befühlte das dritte blinde Auge in seinem Kopf.
    Ein vages Gefühl des Unbehagens regte sich in seiner Brust wie eine durch zu viel Reden hervorgerufene Krankheit. Da fiel ihm der neue weiße Geschenkkarton ein, der in seinem Zimmer wartete, und er lebte wieder auf. Er öffnete die Tür und ging über den stillen Flur in sein Zimmer. Dort rutschte er auf einer glatten Nummer der True Romance Tales aus und wäre beinahe hingefallen. Er drehte nervös lächelnd das Licht an, öffnete den Karton und hob das Toupet vom Seidenpapier. Er stand vor dem glänzenden Spiegel, befolgte die Anweisungen mit dem Maskenklebstoff und dem Band, setzte das Toupet hierhin, klemmte es dorthin, verschob es wieder und kämmte es glatt.
    Dann öffnete er die Tür, ging durch die Halle und klopfte an Miss Fremwells Tür.
    »Miss Naomi?« rief er lächelnd.
    Das Licht unter ihrer Tür verschwand beim Geräusch seiner Stimme.
    Er starrte ungläubig auf das Schlüsselloch.
    »Oh, Miss Naomi?« sagte er noch einmal rasch.
    Im Zimmer rührte sich nichts. Es war dunkel. Einen Augenblick später versuchte er es mit dem Türklopfer. Der Klopfer klapperte. Er hörte Miss Fremwell seufzen. Er hörte, wie sie etwas sagte. Wieder konnte er sie nicht verstehen. Ihre kleinen Füße tappten zur Tür. Das Licht leuchtete auf.
    »Ja?« sagte sie hinter der Tür.
    »Schauen Sie, Miss Naomi«, flehte er. »Machen Sie auf. Schauen Sie.«
    Der Riegel wurde mit einem Ruck zurückgeschoben. Sie zog die Tür zwölf Zentimeter breit auf. Eines ihrer Augen blickte ihn scharf an.
    »Schauen Sie«, verkündete er stolz und schob das Toupet zurecht, so daß es ganz bestimmt den eingesunkenen Krater bedeckte. Er stellte sich vor, er sähe sich im Spiegel über ihrem Schreibtisch, und war befriedigt. »Schauen Sie her, Miss Fremwell.«
    Sie öffnete die Tür ein bißchen weiter, sah hinaus, knallte sie wieder zu und schloß sie ab. Ihre Stimme hinter der dünnen Holztäfelung klang tonlos.
    »Ich kann das Loch immer noch sehen, Mister Lemon«, sagte sie.

 
Dunkel waren sie und goldäugig
     
     
     
    Das Metall des Raumschiffes kühlte im Wind über den Wiesen ab. Das Dach öffnete sich mit einem dumpfen Knall. Aus dem uhrwerkähnlichen Innenraum kamen ein Mann, eine Frau und drei Kinder hervor. Die übrigen Passagiere zerstreuten sich flüsternd auf der Marswiese und ließen die Familie allein.
    Der Mann spürte, wie sein Haar flatterte und die Gewebe seines Körpers sich fest zusammenzogen, als stünde er in einem Vakuum. Seine Frau schien in Rauch vor ihm davonzuwirbeln. Die Kinder, kleine Sämlinge, konnten jeden Augenblick in alle Marslande davongetrieben werden.
    Die Kinder blickten zu ihm auf, wie Menschen zur Sonne aufblicken, um zu sehen, wie spät es ist. Sein Gesicht war kalt.
    »Was ist los?« fragte seine Frau.
    »Laß uns wieder ins Raumschiff einsteigen.«
    »Und wieder zur Erde zurückfliegen?«
    »Ja. Horch!«
    Der Wind blies, als wollte er ihre Identität zerfetzen. Die Marsluft konnte die Seele aus einem heraussaugen wie Mark aus einem weißen Knochen. Der Mann hatte das Gefühl, als sei er in ein chemisches Präparat hineingetaucht, das seinen Intellekt auflösen und seine Vergangenheit verbrennen würde.
    Sie betrachteten die Marshügel, die die Zeit mit ihrer erdrückenden Last von Jahren abgetragen hatte. Sie sahen die alten Städte, die in den Wiesen verloren lagen wie zarte Kinderknochen zwischen

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