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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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wehenden Grasbüscheln.
    »Kopf hoch, Harry«, sagte seine Frau. »Es ist zu spät. Wir haben sechzig Millionen Meilen zurückgelegt.«
    Die blonden Kinder riefen laut zur tiefen Kuppel des Marshimmels hinauf. Es kam keine Antwort, nur das Sausen des Windes im steifen Gras war zu hören.
    Er hob das Gepäck mit kalten Händen auf. »Kommt hierher«, sagte er – ein Mann am Rand eines Meeres, bereit, hineinzuwaten und zu ertrinken.
    Sie gingen in die Stadt.
     
     
    Sie hießen Bittering: Harry und seine Frau Cora und ihre Kinder Dan, Laura und David. Sie bauten eine kleine weiße Hütte und frühstückten gut, aber die Furcht verließ sie nie. Sie war bei jedem nächtlichen Gespräch, jeden Morgen, wenn sie aufwachten, bei ihnen wie ein dritter, unerwünschter Partner.
    »Ich komme mir vor wie ein Salzkristall, der von einem Bergbach fortgespült wird«, sagte er. »Wir gehören nicht hierher. Wir sind Erdenbewohner. Dies ist der Mars. Er ist für die Marsmenschen bestimmt. Um Himmels willen, Cora, laß uns Fahrkarten kaufen und nach Hause fliegen!«
    Aber sie schüttelte nur den Kopf. »Eines Tages zerstört die Atombombe die Erde. Dann sind wir hier sicherer.«
    »Sicher und wahnsinnig!«
    Tick-tack, sieben Uhr, sang die Stimme der Uhr, Zeit auf zustehen. Sie standen auf.
    Aus irgendeinem Grunde untersuchte Mr. Bittering jeden Morgen das ganze Haus – den Herd, die roten Geranien in den Töpfen –, als erwarte er, daß irgend etwas fehlte. Die Morgenzeitung kam noch druckfeucht mit dem Sechs-Uhr-Raumschiff. Er brach das Siegel und entfaltete sie an seinem Platz am Frühstückstisch. Er zwang sich, heiter zu sein.
    »Die Zeit der Kolonisierung kommt wieder«, erklärte er. »Tja, in zehn Jahren haben wir eine Million Erdenbewohner auf dem Mars. Große Städte und alles! Sie haben gesagt, wir würden scheitern, und unsere Invasion würde die Marsmenschen verstimmen. Aber haben wir etwa irgendwelche Marsleute gefunden? Nicht eine lebende Seele! Wir fanden nur ihre leeren Städte, niemand darin, stimmt’s?«
    Ein Windstrom ergoß sich über das Haus. Als die Fenster zu klappern aufhörten, schluckte Mr. Bittering und sah die Kinder an.
    »Ich weiß nicht«, sagte David. »Vielleicht gibt es Marsmenschen, die wir nicht sehen. Nachts meine ich manchmal, ich höre sie. Ich höre den Wind. Der Sand schlägt an mein Fenster. Dann habe ich Angst. Und ich sehe die Städte dort oben in den Bergen, wo die Marsmenschen vor langer Zeit wohnten. Und ich bilde mir ein, ich sehe auch, wie sich in diesen Städten etwas bewegt, Papa. Ich möchte wissen, ob die Martianer etwas dagegen haben, daß wir herkommen.«
    »Unsinn!« Mr. Bittering schaute aus dem Fenster. »Wir sind saubere, anständige Leute. In allen toten Städten hausen irgendwelche Geister. Erinnerungen, meine ich.« Er starrte zu den Hügeln hinüber. »Man sieht eine Treppe und fragt sich, wie die Marsmenschen aussahen, wenn sie hinaufgingen, man sieht Bilder von ihnen und fragt sich, wer wohl der Maler war. So erschafft man in Gedanken ein kleines Gespenst, eine Erinnerung. Das ist ganz natürlich. Die Einbildung.« Er unterbrach sich. »Du bist doch nicht etwa in den Ruinen herumgeklettert, wie?«
    »Nein, Papa.« David blickte auf seine Schuhe.
    »Paß auf, daß du ihnen nicht zu nahe kommst. Reich mir die Marmelade.«
    »Trotzdem«, sagte der kleine David, »möchte ich wetten, daß was passiert.«
     
     
    Am Nachmittag desselben Tages passierte etwas.
    Laura stolperte heulend durch die Siedlung. Sie stürzte blinden Blicks auf die Veranda.
    »Mutter, Vater – Krieg auf der Erde!« schluchzte sie. »Eben gerade kam eine Funknachricht. Atombombe traf New York! Alle Raumschiffe explodiert. Es gibt keine Raumschiffe mehr zum Mars, nie mehr!«
    »O Harry!« Die Mutter umklammerte ihren Mann und ihre Tochter.
    Laura weinte. »Bist du ganz sicher, Laura?« fragte der Vater ruhig.
    Laura weinte. »Jetzt sitzen wir für immer hier auf dem Mars fest!«
    Lange Zeit hörte man nur den Wind des Spätnachmittags.
    Allein, dachte Bittering. Wir sind nur etwa tausend Menschen. Kein Weg zurück. Kein Ausweg. Kein Weg. Schweiß rieselte ihm über Gesicht, Hände und Körper. Er war durchnäßt von der Hitze der Furcht. Am liebsten hätte er Laura geschlagen und sie angeschrien: »Nein, du lügst! Die Raumschiffe kommen zurück!« Statt dessen zog er ihren Kopf an sich und sagte: »Die Raumschiffe kommen schon eines Tages wieder durch.«
    »Vater, was sollen wir

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