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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Lebensende würde ihm dieser Moment unvergesslich bleiben.
    Hannah saß neben ihm und blickte hinunter in die Ebene. Es schien, als habe sich der trübe Schleier, der sie so lange bedrückt hatte, aufgelöst, so dass sie wieder frei und unbeschwert atmen konnten. Chris streckte sich, richtete sich in seinem Schlafsack auf und versuchte, die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Plötzlich blickte er sich überrascht um.
    »Wo ist Kore?«
    Sie stellte einen Topf mit Wasser auf den Gaskocher. »Er ist gestern Nacht gegangen, als du schon fest geschlafen hast. Er meinte, seine Aufgabe sei erfüllt, und ist in sein Sommerlager zurückgekehrt. Er hat Boucha mitgenommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.«
    »Wie schade, ich hätte beiden gerne noch Lebewohl gesagt und mich bei Kore für alles bedankt.«
    »Er wollte dich nicht stören. Außerdem sind lange Abschiede und Dankesbekundungen nicht Sache der Tuareg. Du kennst sie ja.«
    Chris schüttelte den Kopf. »Ganz werde ich sie nie verstehen. Sie gehören zu einer anderen Welt.«
    Hannah blickte nachdenklich auf die Kieselsteine vor ihren Füßen. Sie hob einen auf und ließ ihn durch ihre Finger gleiten. »Da hast du Recht. Selbst für mich, die ich schon seit einer halben Ewigkeit hier lebe, sind sie immer noch ein Mysterium. Ich liebe sie, doch sie werden mir auf ewig fremd bleiben, genau wie die Wüste. Ich glaube, für mich wird es Zeit, eine Pause einzulegen. Ich werde die Wüste verlassen.«
    »Weißt du schon, was du tun willst?«
    Sie warf den Kiesel im hohen Bogen über die Felskante. »Keine Ahnung. Nur eines will ich nicht: nach Hause zurückkehren. Noch nicht.«
    »Dann komm doch mit mir. Ich werde Stromberg bitten, mich aus seinen Diensten zu entlassen, und danach in meinen alten Beruf zurückkehren. Du könntest dich in Washington um eine Professur bewerben.«
    »Möchtest du das wirklich?«
    »Mehr als alles andere. Besonders jetzt, da wir hier alles erledigt haben.«
    Sie sah ihn mit einem skeptischen Blick über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Alles? Nein. Es gibt eine Sache, die wir noch nicht zu Ende geführt haben. Ich habe mich gestern lange mit Kore darüber unterhalten und glaube jetzt zu wissen, was zu tun ist. Möchtest du mitkommen?«
    Was für eine Frage. Er sprang aus seinem Schlafsack, reichte ihr seine Hand und zog sie auf die Füße. Dann verneigte er sich galant. »Nach Ihnen, Mademoiselle. «
    Hannah ging zurück zu dem niedrigen Zelt und holte eine hölzerne Schatulle hervor, die über und über mit kunstvollen Intarsien verziert war. Kore hatte darauf bestanden, dass sie dem Auge einen angemessenen Ort zur Aufbewahrung gaben, und ihnen die wertvolle Schatulle geschenkt.
    »Du willst das Auge wirklich hier lassen?«
    Sie nickte, und um ihren Entschluss zu bekräftigen, trat sie mit schnellen Schritten in das Halbdunkel zwischen den Felsen.
    Chris folgte ihr, und schon wenige Minuten später befanden sie sich im magischen Kreis, jenem verborgenen Gebetsplatz der Tuareg, an dem alles seinen Anfang genommen hatte. Hannah ging zu dem ausgetrockneten Brunnen im Schatten der uralten Zypresse. Sie setzte sich auf den Rand und winkte Chris zu sich. »Wenn du möchtest, erzähle ich dir jetzt, was ich erlebt habe, in jener Nacht, als ich den Stein berührte.«
    Endlich, durchfuhr es Chris. Seit Tagen brannte er darauf, das Geheimnis zu erfahren, aber Hannah hatte jedes Mal abgeblockt, wenn er sie darauf ansprach. Jetzt war es endlich so weit. »Natürlich«, erwiderte er und setzte sich zu ihr.
    Sie schwieg eine Weile, um Kraft für ihre Erinnerungen zu sammeln.
    »Ich glaube, dass ich den ersten Teil überspringen kann. Du hast ihn ja selbst erlebt. Ich meine den Teil mit den Funken und den Fragmenten aus den Vergangenheit. Ich habe das alles gesehen, genau wie du, und ich kann dir versichern, es war eine der schmerzhaftesten Erfahrungen meines Lebens. Noch einmal zu erleben, wie es zum Bruch zwischen mir und meinem Vater kam, war sehr schmerzhaft. Doch irgendwann war es vorbei, und ich befand mich eingeschlossen in einer Kugel, die mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den Weltraum zu rasen schien.«
    Sie lächelte verlegen. »Es mag lächerlich klingen, aber ich konnte während dieser Zeit die Nähe Gottes spüren. Das Weltall ist so unvorstellbar groß, dass alle Worte versagen. Ich habe Dinge gesehen, für die es keine Beschreibung gibt. Einen bewohnten Planeten, von Lebewesen bevölkert, die unserer Medusa bis aufs Haar

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