Medusa
von einem schönen Traum herrühren mochte. Er spürte noch immer ihre Hände und ihre Küsse. Die Vereinigung mit ihr war wie ein Rausch gewesen. Wunderbar und tragisch zugleich.
Er verfluchte sich innerlich, dass er es so weit hatte kommen lassen. Warum nur hatte er ihr nicht widerstehen können? Warum musste er mit ihr schlafen und damit alles noch komplizierter machen? Er biss sich auf die Unterlippe. Irgendwann würde er ihr wehtun müssen.
Der Lichtstrahl der Lampe fiel auf ein großes, schwarzes Hindernis in einiger Entfernung vor ihm. Verdammt, dann war es doch eine Sackgasse. Er kroch noch ein Stück weiter und bemerkte, dass die Dunkelheit vor seiner Lampe zurückwich. Er spürte Hoffnung in sich aufsteigen. Da war nichts, was ihm den Weg versperrte, da war das Ende des Tunnels. Dahinter befand sich ein Raum, der das Licht der Lampe fast zur Gänze schluckte. Ein großer Raum.
Angetrieben von neuer Energie, arbeitete er sich voran. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und zog und drückte wie ein Besessener. Dann war es geschafft. Mit einem Seufzer der Erleichterung schob er sich aus dem Gang.
Das Licht seiner Taschenlampe leuchtete die Innenseite eines außergewöhnlichen Hohlraums aus. Er maß etwa fünf Meter in der Höhe und fünfzehn im Durchmesser. Während der Lichtkegel über die Wände kroch, offenbarten sie erstaunliche Details. Zuerst fiel ihm die makellos glatte Oberfläche auf. Er konnte keine Unebenheiten entdecken, keine Fugen, keine Kanten, nur reinen, nackten, glatten Fels. Die Oberfläche ließ keine Abschlagspuren von Werkzeugen erkennen. Doch hätte ein solcher Raum niemals auf natürliche Weise entstehen können. Zweifellos war er das Ergebnis meisterlicher Baukunst, erdacht und geschaffen in einer Zeit, die für die Geschichtsschreibung im Nebel versunken lag. Chris strich mit seinen Fingern über die Oberfläche. Was für eine unvorstellbare Kraftanstrengung war nötig gewesen, um diesen Raum aus dem Inneren eines massiven Felsens, eines Monolithen, herauszuhauen. Unglaublich, dass so etwas überhaupt möglich war.
Er blickte sich um. Es gab keinen anderen Ein- oder Ausgang, nur die schmale Röhre, durch die er gekommen war. Der gesamte Schutt musste also durch diesen Gang hinaustransportiert worden sein.
»Chris?« Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er richtete das Licht auf die Öffnung. Hannah kam staubbedeckt aus dem finsteren Gang gekrochen. Geblendet wandte sie den Kopf ab und beschirmte ihre Augen mit der Hand. Sie stöhnte, während sie sich aus dem Loch zwängte.
»Entschuldige, ich habe dich nicht kommen hören«, sagte er und half ihr aus der Röhre. »Warum bist du mir gefolgt?«, tadelte er sie. »Durch den engen Stollen, und ganz ohne Licht. Verrückt!«
»Ich habe gerufen und gerufen, aber du hast nicht geantwortet. Ich dachte, dass du vielleicht in Schwierigkeiten steckst, da bin dir einfach gefolgt.«
Sie nestelte in der Brusttasche ihrer Weste herum, förderte eine Brille zutage und sah sich um. Minutenlang sagte sie kein Wort und betrachtete vollkommen konzentriert die Geheimnisse der vorzeitlichen Baumeister. Dann ging sie zum Rand des Raumes und fing an, mit den Fingern über den Stein zu fahren. Wie eine Blinde, schoss es Chris durch den Kopf. Sie musste einen Gegenstand berühren, um Verbindung mit ihm aufzunehmen. Erst als er näher trat, erkannte er, dass ihre Finger Rillen im Stein folgten, die so zart waren, dass er sie auf den ersten Blick übersehen hatte. Sein Atem stockte. Ihre Finger enthüllten eine erstaunliche Entdeckung. Der Hohlraum war vom Boden bis zur Decke mit Ritzungen übersät.
»Wir müssen das Team verständigen«, sagte sie. »Sofort!«
Einige Stunden später standen die Mitglieder der Gruppe geschlossen vor dem schmalen Eingang, der zum Herzen des uralten Geheimnisses führte. Hannah und Chris hatten sie auf einem anderen Pfad hierher geführt, der zwar nicht so gefährlich, aber dafür ebenso anstrengend war wie ihre erste Kletterpartie. Ihre Körper waren verschwitzt und ihre Gesichter gerötet. Mano Issa und zwei seiner Gefolgsleute waren mitgekommen und hatten oberhalb der Schlucht einen Aussichtsposten bezogen. Den Rest der Eskorte hatten sie zur Bewachung des Lagers zurückgelassen.
»Ich hoffe, die Kraxelei hat sich gelohnt«, stöhnte Malcolm, der an seiner digitalen Videokamera fummelte. »Die Unterbrechung der Dreharbeiten wirft uns mindestens zwei Tage zurück. Es war alles fertig aufgebaut.
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