Medusa
Himmelsstreifen, der zwischen den mächtigen Felsen aufleuchtete. Außer dem immerwährenden Rieseln des Sandes und dem unaufhörlichen Knacken des Gesteins drang kein Laut an ihr Ohr.
»Wonach suchen wir eigentlich?«, wandte Chris sich an Hannah.
»Nach Wasser.«
»Wasser? Wieso denn? Unsere Feldflaschen sind doch noch gefüllt.«
»Es geht nicht ums Trinken.« Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Überleg mal. Die Skulptur im Tassili N’Ajjer befand sich am Ende der Schlucht, in einem Halbrund, das vor langer Zeit mit Wasser gefüllt war. Jedenfalls lassen die Rippelmarken, die ich in tieferen Sandschichten gefunden habe, diesen Schluss zu. Dann die zweite Entdeckung, der Tümpel, in dem wir gebadet haben. Aus irgendeinem Grund hat sich das Wasser dort halten können. Wahrscheinlich, weil die Oberfläche klein und geschützt ist, so dass die Verdunstung geringer ist als der Zufluss. Die Medusa liegt gut verborgen in der Tiefe, weshalb sie bisher auch noch niemand entdeckt hat. Dann fiel mir etwas ein, was ihr damals bei der Entdeckung der Gravuren am Obelisken erwähnt habt. Nämlich, dass die Medusa in vergangenen Kulturen ein Wassersymbol gewesen ist. Da kam mir eine Idee. Was konnte für die Menschen der Urzeit so wichtig gewesen sein, dass sie ein derart ausgeklügeltes System der Ortsbestimmung ersannen? Ein System wohlgemerkt, das auf beachtlichem astronomischen und geometrischen Wissen beruhte. Erdacht von einer Kultur, die in einem Maße fortgeschritten war, wie wir es uns bisher in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnten.«
»Eine Wasserader!«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wasser gab es damals in dieser Region in Hülle und Fülle. Das Klima war anders als heute. Zwischen dem Ende der Eiszeit und dem Beginn der Trockenzeit lagen etwa fünftausend Jahre, in denen es reichlich Niederschläge gab. Überall waren Bäche, Tümpel und Seen. Der Tschadsee lag nur wenige hundert Kilometer von hier entfernt. Er war einst ein riesiges Binnenmeer, von dem man glaubte, dass dort die Quellen des Nils zu finden seien. Erinnere dich nur an die Felsdarstellungen mit den Schwimmern. Sie stammen aus dieser Zeit. Nein, das Vorhandensein von Wasser war nicht das Problem.«
»Was dann?« Chris blickte sie ratlos an.
»Der Wunsch, dass auch zukünftige Generationen immer ausreichend Wasser für Ackerbau und Viehzucht haben sollten. Du musst verstehen, dass die Sahara auch während der Eiszeit ein Ort extremer Trockenheit gewesen ist. Die Menschen wussten, dass diese Trockenheit jederzeit wieder einsetzen konnte. Wenn ich die Darstellungen auf dem Obelisken richtig gedeutet habe, dann wollten sie einen Wasservorrat für künftige Generationen anlegen, der aus der Sahara für alle Zeiten einen Garten Eden gemacht hätte.«
»Denkst du an einen See?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenig wahrscheinlich, denn Seen gab es ja. Offene Gewässer bieten keine dauerhafte Lösung. Nein, es müsste sich um etwas anderes handeln. Möglicherweise um ein unterirdisches Reservoir.« Sie starrte nachdenklich zu Boden.
Chris zuckte die Schultern. »Na ja, was immer es war, das Projekt ist wohl gründlich gescheitert.«
»In der Tat. Die Frage ist nur, warum die Menschen damals so überzeugt davon waren. Dieses Rätsel verfolgt mich seit Tagen, und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir hier eine Antwort darauf finden könnten.«
Chris blickte sie zweifelnd an. »Beruht diese Theorie auf Fakten oder auf wilden Spekulationen?«
Hannah lächelte schief. »Ich weiß, wie sich das für dich anhören muss. Jedem wissenschaftlich denkenden Menschen sträubt sich das Nackenhaar bei einer solchen Theorie. Ich kann diese Einstellung gut nachvollziehen«, seufzte sie. »Mir ging es bis zu unserer Entdeckung der zweiten Medusa nicht anders. Dann aber begannen die Puzzleteile sich in meinem Kopf zusammenzufügen. Eins ergab das andere. Es war ein Vorgang, den ich nicht steuern oder beenden konnte. Es geschah von ganz allein wie bei einer Reihe von Dominosteinen, die sich gegenseitig umstoßen. Und jetzt stehe ich hier und habe nichts anderes als diese verrückte Theorie. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was das für ein unangenehmer Zustand für einen Wissenschaftler ist.«
»Allerdings«, lachte Chris. »Es ist die Hölle. Keiner wird dir Glauben schenken. So lange, bis du harte, unwiderlegbare Fakten vorweisen kannst. Und die wirst du womöglich nie bekommen. Aber tröste dich, meine Stimme hast
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