Meer ohne Strand
kribbelnden Füßen, die ihn nicht schlafen ließen, so daß er bereits im Morgengrauen aufstand, eilig das Haus verließ, schon im Auto war: Da kehrte er noch einmal um. Ging zurück, rief das Krankenhaus an. Verlangte Dr. Mathai zu sprechen: den jungen indischen Arzt. Der auch tatsächlich Dienst hatte,
»Ah, Mr. Brauer! How are you!«
Sie war noch am Leben. Ihr Zustand war stabil. Nein, sie war noch nicht bei Bewußtsein, aber man würde ihn gern anrufen. But of course! Man würde es ihn sofort wissen lassen, wenn die Eisprinzessin erwachte.
Er hinterließ seine Nummern in Deutschland, nun fuhr er los. Als er auf Höhe des Pilgrim Lake war, ging über den Wanderdünen die Sonne auf, kalt.
II
»– und ich habe ihm das gesagt! Ich habe ihm hundertmal gesagt, wir können das nicht einfach vorbeischleusen an der heiligen Dreifaltigkeit. Aber er muß ja den Obermufti der Redaktion geben, jedesmal wieder«,
Sina stand am Fenster. War ein Korken, in den Wogen des Partygequassels: Sina Beatrice Fischer, 35. Einssechsundsiebzig. Konfektionsgröße 38/40. Abgebrochenes Jurastudium, abgebrochenes Betriebswirtschaftsstudium, zur Zeit Sachbearbeiterin bei einer Versicherung: Privathaftpflicht, Leistungsabteilung.
Vorhin in der Damentoilette hatte sie noch schnell ihre Bluse gegen ein Seidentop getauscht, dies hier war ein Geburtstagsfest. Eine kleine intime Feier, mit achtzig Gästen,
»– dann sollen sie das Bild doch kontern! Oder sie sollen eins besorgen, wo der Köter auf dem Beifahrersitz einer englischen Karre hockt, und wo sitzt er dann wohl bei uns? Na? Genau, und dann wollen wir doch erst mal sehen, ob nicht doch der Hund gefahren ist«,
»– komm, die gehört doch bloß mal wieder anständig hergenommen. Die Zicke, was die braucht, ist ein sizilianischer Pizzabäcker. Oder ein Antillenneger«,
Plötzlich Stille. Vorsätzliche Verletzung der Political correctness: Aber es war nichts, nur ein Kratzer. Keine Platzwunde, kein Blattschuß, nur modisch gemeint: wieBauchnabelpiercing, wo war eigentlich das Geburtstagskind? Der Big Boss, er hielt hof am Büffet.
Umgeben von Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern: Emanuel Ullrich. Groß, schwer, riesig in einem maßgeschneiderten Anzug, den Teller beladen mit Räucherlachs, Krabben, frischen Crostini, wo war Emanuels Frau?
Unterhielt sich mit Emanuels Sekretärin. Sie sah gepflegt aus, wie immer. Selbstbewußt. Gut in Schuß für ihre dreiundvierzig Jahre, es war Emanuel durchaus abzunehmen, daß er sie schätzte: während er sie mit Nonchalance, mit perfekter Diskretion fünf Tage die Woche beschiß. Mit dermaßen ausgeprägter Leidenschaftslosigkeit, einem so völligen Mangel an erotischer Besessenheit, daß er das Ganze genausogut hätte bleiben lassen können,
Aber Sina! Sind wir nicht alle Suchende, irgendwo,
Eine Vokabel wie Bindungsfähigkeit wäre ihm allenfalls beim Andicken zarter Soßen eingefallen. Den Donjuanismus hielt er nicht für eine Neurose, sondern für eine Gottesgabe, draußen hatte es zu schneien begonnen. Flocken wirbelten durch die rasch niedersinkende Dämmerung. Trieben durch das Licht der Deckenleuchte, die sich im Fenster spiegelte: Wenn man lange genug hinsah, dann schien es, als stünden die Schneeflocken still, und die Spiegelung des Lampenlichts triebe nach oben. Segelte mit dem ganzen Zimmer langsam hinauf durch reglose Flocken, schwebte himmelan, höher und höher: ein leuchtendes Raumschiff über dem Meer der Stadt, Johannes kam mit einer Flasche Prosecco.
Füllte Sinas Glas auf, sagte: »Schau mal, Sina, es schneit. «
Legte eine Hand auf Sinas Schulter. Sagte: »Was machstdu denn morgen, Sina? Oder Sonntag, wir könnten vielleicht Sonntag zum Skifahren gehen«,
Auch nach einem halben Jahr konnte er noch nicht akzeptieren, daß Sina sich wirklich von ihm getrennt hatte. Bemühte sich unbarmherzig weiter um sie: Er wußte schließlich, wo das Problem lag,
Du bist eben nicht bindungsfähig, Sina!
Das sagte Johannes. Daß Sina ihn nicht liebte, konnte doch nur auf einen psychischen Defekt zurückzuführen sein, Johannes sagte: Du siehst die Dinge verschoben, Sina. Das liegt an deinen Verletzungen. Ich könnte dir helfen, deine seelischen Verletzungen zu heilen,
Er interpretierte mit Wonne Sinas Leben. Johannes, der Psycho-Onkel: Er krebste auch bei Emanuels Gazette herum. Widmete sich den Lebensproblemen verzweifelter Ehefrauen, ratloser Sekretärinnen. War mit ihnen gefangen in Liebesgeschichten. In einer
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