Meeresblau
verurteilt. In seinem Kopf schwirrte und summte es. Gerade wollte er resigniert das nächste Buch nehmen, um es zu durchforsten, als er eine vertraute Stimme hörte.
„Hi. Tut mir leid, dass ich jetzt noch störe. Aber ist Dr. Jacobsen da?“
Unwillkürlich fuhr er auf. Die Institutsleiterin?
„Wer sind Sie?“, hörte er Jeanne fragen. „Was wollen Sie von meinem Bruder?“
„Mein Name ist Maya. Vielleicht hat Christopher mich erwähnt. Ich arbeite im Institut für Meeresbiologie in Dunvegan und wollte ihm seinen Plan vorbeibringen.“
Er konnte Jeannes finsteres Gesicht vor sich sehen, wie er ihre Gedanken spürte. Jetzt, da sie wusste, was er war, sah sie eine Meeresbiologin ohne Frage als Feind an. Am Ende würde sie Maya noch davonjagen.
„Kommen Sie rein“, hörte er Jeanne zu seiner Verblüffung sagen, als er aufstand, um zu den beiden zu gehen. „Ich werde mal nach ihm suchen.“
„Danke. Sehr nett von dir. Ist es hier eigentlich immer so windig? Da fliegt man ja fast weg. Sieh dir das bloß mal an, ich sehe aus wie ein explodiertes Rosetten-Meerschwein.“
Bei der Vorstellung musste er lachen und ein warmes Gefühl kroch durch seinen Körper, dessen Intensität ihn verblüffte.
„Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht wie ein Meerschwein aussehen“, sagte Jeanne.
„Nenn mich doch Maya, bitte. Mein Großvater White Elk sagte früher immer, mein Totemtier sei ein Opossum. Das passt. Nur, dass ich mich nicht zum Schlafen mit dem Schwanz an einem Ast aufhänge.“
„White Elk? Das klingt nach …“
„Er war ein Sioux.“
„Cool. Dann bist du Indianerin?“
„Ein Halbblut. Mein Vater stammte von der Insel Hokkaido.“
„Aha. Und Opossums hängen sich zum Schlafen auf?“
„Das kommt vor. Ihr Schwanz funktioniert wie eine Klammer, weshalb sie stundenlang kopfüber an Ästen baumeln können. Sieht grotesk aus. Vor allem, wenn an einem Baum mehrere von den Dingern hängen. Aber sag mal, Christopher ist wirklich dein Bruder? Ihr seht euch gar nicht ähnlich.“
„Er ist …“ Jeannes Stimme klang unsicher. „Er ist mein Adoptivbruder. Aber ich muss dich warnen. Ihm geht es heute nicht besonders.“
„Ist er krank?“
„Nein. Er hat nur schlechte Laune.“
Auf seinem Lauschposten verdrehte er die Augen. Seinen Zustand mit schlechter Laune zu umschreiben, war auch eine Interpretation.
„Ach, na dann. Das kommt mir bekannt vor. Falls er den Einsiedlerkrebs machen will, dann richte ihm gute Besserung von mir aus.“
Die Frau gefiel ihm. Auch das noch. Skeptisch betrachtete er seine Hände. Keine monströsen Veränderungen waren zu sehen. Es sprach also nichts dagegen, sich ein wenig näher mit ihr zu beschäftigen. Vielleicht half ihre Nähe, das Chaos in seinem Kopf zu besänftigen.
Maya folgte der Aufforderung des Mädchens, sank in den Sessel zurück und betrachtete ein großes, gerahmtes Bild über dem Kamin. Es zeigte das Foto einer berühmten antiken Statue. Der Kampf Laokoons und seiner beiden Söhne gegen die Seeschlangen. Etwas hatte sie schon immer an dieser Darstellung gereizt. War es der zu Stein erstarrte, für die Ewigkeit festgehaltene Moment des Todeskampfes? Die morbide Schönheit des Schmerzes oder die Leidenschaft der Selbstaufgabe? Vielleicht auch das Wissen, dass es das Schicksal dieser drei Menschen war, von den Seeschlangen ins Meer gezogen zu werden? Sie dachte an Christophers Augen, die ihr das Gefühl gegeben hatten, in eine lichtlose Tiefe hinabzusinken. Sie dachte an den Kuss in ihrem Traum und an das Gefühl köstlicher Resignation, als sie begriffen hatte, dass sie ertrank.
Tief musste sie in ihren Gedanken versunken gewesen sein, denn als hinter ihr Geräusche erklangen, fuhr sie zusammen. Ein schwarzbrauner Husky, das rotblonde Mädchen und Christopher kamen ins Zimmer. Bereits bei seinem ersten Besuchim Institut hatte diesen Mann etwas Mystisches umgeben, doch hier und heute wirkte er noch unwirklicher. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, von dem man nicht sagen konnte, ob es freundlich, abweisend oder provokant war.
„Hallo Maya.“ Er setzte sich auf die Lehne des Sofas und verschränkte die Arme vor seiner Brust. In jeder Bewegung lag etwas Vorsichtiges, fast, als hätte er Schmerzen. „Was führt dich zu mir?“
Für einen Moment war sie sprachlos. Waren seine Augen bei ihrem ersten Treffen schon so blau gewesen? Sie hatte nur ein Mal eine solche Farbe gesehen. Spät in der Nacht auf einem Schiff, als sie allein auf die
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