Meeresblau
deutlicher, mal blasser, abhängig vom Lichteinfall. Er hob die Hände und musste zusehen, wie ihm Schwimmhäute wuchsen. Halb transparente, silbrigblaue Membranen, bedeckt mit feinen Sprenkeln aus dunklem Blau.
Er zwang sich, weiter zu atmen. Irgendwie aufrecht zu bleiben und nicht auszuflippen. Vorsichtig berührte er seine Haut. Tastete mit der einen Hand über Wangen und Stirn, mit der anderen über die Fläche des Spiegels, um sich bewusst zu machen, dass echt war, was er sah.
Was ihm entgegenblickte, war kein menschliches Wesen. Es war eine fremdartige Kreatur, ein Geschöpf aus uralten Sagen und mit keiner Wissenschaft zu erklären. Das blaue Feuer seiner Augen war kalt wie Eis. Etwas Gnadenloses lag darin. Etwas, das zu bizarr war, um es zu begreifen.
Das Klappen der Tür ließ ihn herumfahren. Jeanne stand vor ihm – und erstarrte zur Salzsäule.
„Raus“, entkam es ihm mit einem Knurren, das wenig Menschliches an sich hatte. „Lass mich allein.“
Sie gehorchte und kurz darauf hörte er sie draußen weinen. Nach Luft ringend sackte er gegen die Wand. In seinem Kopfherrschte die Lähmung eines Schocks. Immer wieder sah er auf, hoffte, dass sein Spiegelbild wieder das zeigen würde, was er kannte. Doch jedes Mal erschien ihm sein Anblick befremdlicher. Er sah die blutigen Fetzen in der Duschwanne. Seine menschliche Haut. Tiere häuteten sich, um etwas Neuem Platz zu schaffen. Für ein neues Leben, einen neuen Körper.
Während er regungslos an der Wand lehnte, verebbte das Prickeln in seinem Körper. Die Häute zwischen seinen Fingern schienen langsam zu verschwinden, die Muster verblassten.
Wurde er wieder normal?
Er konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen, und als er es erneut wagte, in den Spiegel zu blicken, war sein menschliches Antlitz zurückgekehrt.
Wenn auch nur oberflächlich …
Da war noch immer der gespenstische Glanz in seinen Augen, auch wenn ihr Ausdruck an Bedrohlichkeit verloren hatte. Seine Haut war nach wie vor zu glatt und hell, untermalt vom Schwarz seiner Haare. Als er sah, wie diese neue Haut das matte Licht der Lampe reflektierte, fühlte er sich elend. Wie sollte er diese Veränderungen kaschieren? Kontaktlinsen? Puder?
Fast hätte er gelacht. Sich den Schlafanzug wieder überzuziehen mutete wie Hohn an, denn die Hoffnung, einfach in die Alltäglichkeit zurückkehren zu können, war absurd.
Als er aus dem Bad trat und Jeanne erblickte, wurde der zuvor unwirkliche Schrecken greifbar. Ihr Blick bewies, dass er keiner Halluzination erlegen war. All das war wirklich geschehen. Es war echt. Für wenige Momente hatte er seine Maske abgeworfen und war zu dem geworden, wozu er bestimmt war. Ein Beweis, dass er keine Macht über die Metamorphose seines Körpers besaß.
„Komm mit“, sagte er.
Stumm folgte sie ihm in das Arbeitszimmer. Er musste etwas tun. Etwas, das ihn ablenkte und bewies, dass sein Leben nicht gänzlich verloren war. Während er einige Bücher aus dem Regal zog und sich auf die dunkelgrüne Chaiselongue fallen ließ, nahm Jeanne auf dem Boden Platz und klammerte sich an Finn fest. Der Hund schnupperte an ihm, musterte ihn und akzeptierte ihn schließlich mit tiereigener Toleranz als das, was er war. Als hätte sich nichts Entscheidendes geändert. Eine tröstende Reaktion.
„Geht es dir gut?“ Sie grub ihre Finger Halt suchend in das Fell des Hundes. „Sag mir die Wahrheit.“
„Es ist okay.“ Er ließ zu, dass sie aufstand und mit den Spitzen ihrer Finger über seine Wange strich. Die Angst in ihrem Blick traf ihn wie ein Messer ins Herz. Gerade erst hatten sie ihre Eltern verloren, und nun geschah das hier. Wenn er es nicht schaffte, diese fremdartige Seite in sich zu kontrollieren, würde seine Schwester einen weiteren Verlust ertragen müssen. Und vermutlich daran zerbrechen.
„Hat es sehr wehgetan?“ Sie setzte sich wieder auf den Boden und kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Sag schon.“
Mit einem Kopfschütteln nahm er ein Buch aus dem herausgesuchten Stapel. „Reden wir nicht mehr drüber, ja? Tut mir leid, dass ich dich rausgeschmissen habe.“ Noch immer nicht fähig, das Ausmaß des soeben Erlebten zu begreifen, betrachtete er seine Hand. Ihr menschliches Aussehen schien ihn zu verspotten. „Kennst du die Geschichte des Shellycoat?“ Er schlug die entsprechende Seite im Buch auf. „Schon mal davon gehört?“
Jeanne schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Ich habe in letzter Zeit ein bisschen nachgeforscht, welche
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