Meeresblau
haben. Langsam hatte sie es angehen lassen wollen. Vorsichtig und ohne Erwartungen, die ohnehin nur dazu taugten, wie Vögel vom Himmel geschossen zu werden. Aber jetzt sah es ganz danach aus, als litten ihre Prinzipien unter einem Schwächeanfall.
Gemächlich liefen sie weiter. Die Schönheit der Nacht, die angenehme Gesellschaft und das Wissen, nach wochenlanger Schufterei von den meisten Pflichten befreit zu sein, stieg ihr gehörig zu Kopf. Sie hatte Zeit und sie war hier an einem der schönsten Flecken der Insel. Gemeinsam mit einem Mann, der ihre Sinne in Verzückung versetzte. Von diesen Gedanken beflügelt erklomm sie den Pfad zu den Klippen, doch während Christophers Atem kaum schneller ging, als sie das Wäldchen erreichten, pfiff sie auf dem letzten Loch. Gerne hätte sie die alten Kiefern und den ihr zu Füßen liegenden Ozean bewundert, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, nach Atem zu ringen. In der Dunkelheit zwischen den Bäumen waren Grabsteine zu erkennen. Wie herrlich morbid.
„Du kommst öfter hier hoch, was?“ Sie fächelte sich Luft zu. „Bitte sag mir, dass es so ist, sonst fühle ich mich wie der letzte Waschlappen.“
„Es ist so.“ Er lächelte dürftig. „Da hinten auf dem Friedhof liegen meine Eltern und Großeltern.“
Sie folgte seinem Blick zu den Steinen und Kreuzen, die friedvoll unter den Bäumen dahindämmerten. Seine Traurigkeit war beinahe körperlich zu spüren.
„Du vermisst sie sehr?“
„Ja.“
Sie hatte das Bedürfnis, ihn zu trösten, wusste aber beim besten Willen nicht, wie sie das anstellen sollte. Diese Art von Kummer machte jeder mit sich selbst aus.
„Es geht vorbei“, sagte sie, nur um etwas zu antworten. „Oder besser gesagt wird es erträglicher. Ich habe meine Eltern auch verloren. Mein Vater verschwand noch vor meiner Geburt, meine Mutter starb an einer Alkoholvergiftung. Ein alltägliches Schicksal im Pine Ridge-Reservat.“
„Du kommst aus einem Reservat?“
„Bis zu meinem achten Lebensjahr lebte ich dort. Als meine Mutter starb, holte mich mein Großvater zu sich und gab mir ein Zuhause. Er wohnte in einem knallblauen Holzhaus in der Wüste von Arizona. Es war alt und überall regnete es durch, aber ich liebte es. Bevor White Elk mich aufnahm, wusste ich nichts von dem Glauben und der Denkweise meiner Vorfahren. Er hat mir die Türen zu einer neuen Welt geöffnet.“
Maya verstummte. Warum erzählte sie ihm das? Normalerweise war sie nicht so offen Fremden gegenüber, aber mit Christopher war nichts so, wie sie es von anderen Menschen kannte. Lächelnd lief sie durch den Hain aus knorrigen Kiefern bis zum äußersten Rand der Klippe. Vor ihr lag das Meer in all seiner nächtlichen Pracht. Zwischen den Wolken blitzte derMond hervor und betupfte die Kämme der Wellen mit silbrigem Schimmer.
„Ich würde aufpassen.“ Christopher stand plötzlich so nah hinter ihr, dass sein Atem ihr Ohr streifte.
„Der Kalkstein bricht gern ab. Ein paar Unvorsichtige fanden hier oben schon ein unrühmliches Ende.“
Seine Arme legten sich um ihre Taille und zogen sie zurück. Der sanfte Druck seiner Hände währte nur kurz, doch er genügte, um ihren Atem stocken zu lassen. Blut schoss in ihre Wangen. Einen Moment konnte sie den Duft seiner Haut wahrnehmen. Schwer und warm, so angenehm, dass sie ihn unwillkürlich tief einatmete. Verdammt, wo war ihr Mut, wenn sie ihn brauchte? Es wäre so leicht, ihn zu küssen. Sie musste nur eine Hand in seinen Nacken legen, ihn heranziehen und ihre Lippen auf seine pressen in der Hoffnung, keine Ablehnung auszulösen. Doch sie wagte es nicht. Stattdessen wich sie ein wenig zurück, eine Hand noch immer um seine Taille gelegt, und beugte sich vorsichtig über den Rand der Klippe.
Nur ein schmaler Strandsaum begrenzte das Meer, durchsetzt von scharfen Felsen und Haufen angespülten Tangs. Ihr wurde schwindelig, was keineswegs an der Tiefe lag, die unter ihr gähnte.
„Manchmal macht es mich wütend.“ Christopher wandte sich ab, als hätte es den verstörenden Moment ihrer Nähe nicht gegeben.
Er ging zum Friedhof, während Maya ihm folgte. Vor einem der Grabsteine, den man einem keltischen Kreuz nachempfunden hatte, kniete er nieder. Seine Fingerspitzen strichen über die eingemeißelte Inschrift.
Martha und Robert Jacobsen
.
Die schiefen, per Hand eingeritzten Buchstuben besaßen in ihrer Ungeschicktheit etwas Anrührendes. Kein Datum, doch Maya vermutete, dass diese Wunde in Christophers Seele frisch
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