Meeresblau
Morgendämmerung gewartet hatte. Etwas hatte im Wasser geleuchtet. Eines der Wesen, die in der Nacht aus der Tiefsee heraufkamen, um nach Nahrung zu suchen. Wie sonderbar, dass seine Augen sie daran erinnerten. Aber sie besaßen nicht das Blau des Himmels, eines Edelsteins oder einer Blüte, sondern das Blau der tiefen See. Meeresblau.
Maya räusperte sich. Herrgott, sie musste sich zusammenreißen und aufhören, ihn anzustarren. „Tut mir leid, dass ich mit der Tür ins Haus falle“, nuschelte sie. „Ich wollte euch nur den Expeditionsplan vorbeibringen. Da drin steht alles, was ihr wissen müsst. Aber ich kann euch die Einzelheiten zur Reise gern noch persönlich darlegen.“
Christopher nahm den Hefter entgegen, blätterte kurz und nickte. Dann sah er sie an. Absolut und vollkommen unergründlich. So lange, bis sie glaubte, von der Tiefe seines Blickes eingefangen zu werden wie Laokoon von der Seeschlange. Im Traum hatte er sie umarmt und in die Tiefe gezogen. Sie hatten sich geküsst. Großer Geist. Warum sah er sie so an? Maya wich seinem Blick aus und fragte sich, warum sie sich wie die letzte Idiotin benahm.
„Ich würde euch beide am 25. Dezember abholen.“ Bildete sie es sich ein, oder zitterte ihre Stimme? „Der Flug geht ab Inverness um 00:45 Uhr. Zwischenstopp ist planmäßig in London. Dann geht es um 21:10 Uhr am nächsten Abend weiter im Direktflug nach Sao Paulo. Von dort müssen wir weiter nach Santiago fliegen, wo ein Bus uns zum Hafen von San Antonio bringen wird. Die ganze Reise zieht sich über zwei Tage. Wir übernachten in einem Hotel, am nächsten Morgen geht es auf das Schiff. Die genauen Routen sowie eure planmäßigen Aufgaben und Einsätze findet ihr im Hefter.“
Ihr wurde heiß. Alles verschwamm in einem bläulichen Nebel. Zu viel Kaffee, zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf. Hierherzukommen war eine blöde Idee gewesen. Saß sie wirklich in diesem luxuriösen Wohnzimmer, zusammen mit zwei Menschen, die ihr fremd waren, und plapperte sie hemmungslos zu? Vielleicht war es das Beste, dieser Situation zu entfliehen. Sie brauchte Kälte, Wind und Wasser. Irgendwas, das ihren Verstand klärte. Maya beschloss, die beiden nicht weiter zu belästigen und lieber einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, der sie vielleicht wieder auf den Teppich holte.
„Ich habe einen langen Arbeitstag hinter mir.“ Mit einem demonstrativen Gähnen erhob sie sich, um ihre vorschnelle Flucht nicht unhöflich erscheinen zu lassen. „Ich glaube, ich brauche eine kleine Auszeit. Alles, was ihr wissen müsst, steht in dem Plan. Wenn ihr Fragen habt könnt ihr mich die Woche über jederzeit im Institut erreichen. Auf der vorletzten Seite findet ihr außerdem meine Handynummer. Tut mir leid, dass ich euch so spät noch überrannt habe.“
Sie floh in Richtung Garderobe, ohne sich noch einmal umzusehen, zog ihre Jacke an und öffnete die Tür. Als sie sie zufallen lassen wollte, tauchte Christopher samt Hund vor ihr auf. Ihr Herz vollführte einen wilden Hüpfer in Richtung Hals.
„Was dagegen, wenn Finn und ich dich zum Auto begleiten?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er nach einem halblangen, schwarzen Mantel, zog ihn über und schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. Sie scheiterte daran, auch nur den leisesten Anflug eines Gefühls darin zu lesen, und das stürzte sie in Verwirrung.
„Ähm, gern. Ich hatte allerdings vor, noch ein wenig auf Wanderschaft zu gehen. Den Kopf freibekommen und so.“
„Ich will mich nicht aufdrängen, aber falls meine Gesellschaft erwünscht ist …“
Sein erwartungsvolles Schweigen beschleunigte Mayas ohnehin ungesunden Herzschlag. Eine Spur zu hastig nickte sie. „Gern.“
Er war ihr so nah, dass sie das Spiel der Meeresfarben in seinen Augen sehen konnte. Es erinnerte an ihre Pauamuschel. Die Hüterin vieler Erinnerungen an staubbedecktes Glück. Illusion und Wirklichkeit waren dabei, sich zu vermischen und ihr die Fähigkeit zu rauben, beides zu unterscheiden. „Wir sind hier, um zu träumen“, hatte White Elk gesagt. „Träume zeigen uns den Weg. Durch sie reden die Geister mit uns, und sie wissen die Antwort auf alle Fragen.“ Aber ob es den Geistern gelang, diesen Mann zu durchschauen? Wohl kaum. Er war wie die See bei Nacht. Man sah den Glanz der Oberfläche, aber die Tiefe darunter blieb den Augen verborgen. Fast hätte sie laut aufgelacht. Dieser Mann brachte merkwürdige, gar poetische Saiten in ihr zum Klingen. Es war verrückt, oh ja. Aber ohne
Weitere Kostenlose Bücher