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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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den Magen getrieben. Sie konnte nichts mehr sehen. Konnte nicht mehr atmen. Konnte nicht mehr schreien.
    Conns Arm war wie eine Eisenklammer um ihre Taille. Er hielt sie im eiskalten Wasser aufrecht, während sie Todesqualen in den Wellen litt. Wie schlimmste Krämpfe, so, wie sie sich das Kinderkriegen vorstellte, wie der Tod …
    Schweiß brach auf ihrem Gesicht aus. Keuchend legte sie den Kopf an seine Schulter und betete, dass der Schmerz vorbeigehen möge.
    Sicher musste er irgendwann vorbei sein.
    Conn fluchte und zog sie aus der Brandung. Sie stolperte. Er hielt sie fest und schirmte sie mit seinem Körper ab. Sie klammerte sich zitternd an ihn. Er drückte seine Lippen auf ihr Haar.
    »Mir geht’s … gut«, stieß sie hervor. »Lass mich nur wieder zu« –
Verstand
– »Atem kommen, dann probieren wir es noch mal.«
    Vielleicht. Wenn sie sich vorher nicht übergeben musste oder ohnmächtig wurde.
    Er runzelte die Stirn. »Etwas hält dich zurück.«
    »Ja«, witzelte sie durch ihre klappernden Zähne hindurch. »Diese Höllenschmerzen.«
    Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Etwas anderes.«
    »Du meinst, so sollte es sich eigentlich nicht anfühlen?«
    »Nicht, wenn du dich nicht verwandelst.«
    Sie zuckte zusammen. Wenigstens vermutete er nicht mehr, dass sie etwas unterdrückte oder verdrängte oder so.
    »Ich hab’s wirklich versucht«, verteidigte sie sich.
    »Ja.«
    Diese eine Silbe – »Ja« – klang gut und verlässlich. Die Übelkeit in ihrem Magen besserte sich etwas.
    Doch Conn runzelte noch immer die Stirn, während er aufs Meer hinaussah.
    Sie biss sich auf die Lippen. »Vielleicht bin ich ja doch keine Selkie«, schlug sie vor.
    Er antwortete nicht.
    »Bist du enttäuscht?«, fragte sie.
    Er blickte, offensichtlich überrascht, auf sie herab. »Nein«, antwortete er. »Du hast mich so akzeptiert, wie ich bin. Ich kann nichts weniger als dasselbe tun.«
    Das Echo ihrer eigenen Worte verschlug ihr den Atem:
»Mein ganzes Leben lang habe ich darauf gewartet, gewollt zu werden. So, wie ich bin.«
    »Komm.« Er hob ihren Mantel vom Sand auf und wickelte ihn um sie. »Du musst dich aufwärmen.«
    Ihr Blick fiel auf das Seehundfell, das gerade außerhalb der Reichweite der Wellen lag. »Und was ist mit dir?«
    Sein Gesicht legte sich in die vertrauten, eindrucksvollen Falten. Er bückte sich nach ihrem Rock und ihrer Bluse. »Zuerst kommt meine Pflicht dir gegenüber.«
    Das, dachte sie, war seine Stärke. Und ihr Problem. Sie wusste seine Fürsorge zu schätzen. Aber wer sorgte für ihn?
    »Du kannst nicht immer deine Wünsche, deine Bedürfnisse hintanstellen, nur weil du dich für alles und jeden verantwortlich fühlst.«
    Als sie die Worte aussprach, glaubte sie sogar daran. Wer wusste das schon?
    Conn kniff ärgerlich den Mund zusammen. Das war in Ordnung, sagte sich Lucy. Ärger war ein Gefühl. Mit seinen Gefühlen wurde sie fertig.
    »Aber ich
bin
verantwortlich«, gab er kühl und pikiert zurück.
    »Was einer der Gründe dafür ist, dass ich dich liebe«, bemerkte sie aufrichtig. »Aber manchmal – jetzt zum Beispiel – kann diese Verantwortung warten. Ich kann warten.«
    »Das solltest du aber nicht.«
    Sie grub die Fersen in den Sand. »Du auch nicht.«
    Sie sah den Aufruhr in seinen Augen, die so grau wie Sturmwolken waren.
    »Wovor hast du Angst?«, fragte sie sanft.
    »Selkies treiben dahin, wie die See dahintreibt. Das Wasser ist unser Blut, unser Zuhause, unser Leben. Aber wenn wir überleben sollen, muss jemand an Land bleiben, um vernünftige Entscheidungen zu treffen und zu regieren.«
    »Jemand muss erwachsen sein«, murmelte sie.
    »Wie bitte?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie bewunderte Conns Entscheidung, sein Amt anzutreten, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Hatten nicht sie und Caleb, jeder auf seine Weise, versucht, das Gleiche zu tun? Aber es hatte sie einen Teil ihrer Kindheit gekostet.
    Es hatte Conn einen Teil seiner selbst gekostet.
    »Du glaubst, dass man vergisst, wer man ist, wenn man sich verwandelt? Dass du draußen auf See bleiben würdest wie dein Vater?«
    Conns Gesicht war so trostlos wie der Februar. »Dass ich es mir wünschen würde. Ja.«
    »Ich glaube das nicht.« Sie bückte sich, wie er es getan hatte, und hob sein Seehundfell vom Sand auf. »Du wirst wiederkommen.«
    »Das kannst du nicht wissen.« Seine Stimme klang erstickt.
    »
Vertrau mir,
hast du gesagt, weißt du noch?«, zitierte sie ihn leise. »
Vertrau dir.
Und
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