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Meeresrauschen

Meeresrauschen

Titel: Meeresrauschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schröder
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so sprachbegabt sei, Wissenschaftlerin im weitesten
Sinne, weil ich durchaus akribisch arbeiten könne, wenn ich
mich tatsächlich mal an etwas festgebissen hatte, oder auch
irgendwas »Soziologisches«.
    Nun denn, ich hatte eher das Gefühl, dass das alles nichts
für mich war, aber das mochte ich Sina nicht sagen. – Und
schon gar nicht, dass der Beruf, der mich wirklich ausfüllen
würde, möglicherweise erst noch erfunden werden musste.

    Sina und ich verabschiedeten uns an der Königstraße voneinander,
und dabei rang sie mir das Versprechen ab, morgen
Abend zu ihr zu kommen und ihr alles über die Mädchenmorde
zu erzählen und am Samstag dann mit Sarah, Bille und
noch ein paar Mädels ins
A1
zu gehen, um »den ganzen Inselmuff
«, wie sie sich ausdrückte, abzustreifen und mal wieder so
richtig abzutanzen.
    Ich sparte mir, ihr zu erklären, dass ich Guernsey und Sark
als ganz und gar nicht muffig empfunden hatte, und war froh,
dass ich schon nach einer guten Stunde wieder daheim in unserer
Wohnung war und dort auch meine Mutter nicht antraf.
Stattdessen fand ich in meinem Zimmer eine Nachricht von
ihr auf dem Schreibtisch.
    Meine Süße,
    ich bin mit Susanne in der Stadt, ein bisschen rumgucken,
Kaffee trinken und klönen. Ruf mich an, wenn Du mich
brauchst. Ich habe mein Handy dabei. Hab Dich lieb!
Mam
    »Ich dich auch«, murmelte ich.
    Trotzdem hätte ich jetzt nicht mit ihr reden wollen, weder
über das, was ich an Pas Grab empfunden hatte, noch darüber,
wie mein Wiedersehen mit Sina gewesen war.
    Ich nahm das Glas mit meinen Tränen vom Nachttisch und
legte die kleine grüne Schachtel mit Gordys Träne behutsam
obendrauf. »Du hast recht«, sagte ich leise. »Stadtluft und das
Zusammensein mit Menschen nehmen uns jede Energie. Gut,
dass es hier in Lübeck so viel Wasser gibt.«
    Insofern war es ein Glücksfall, dass ich in einer Hansestadt
und nicht irgendwo in Mitteldeutschland aufgewachsen war.
Und ganz egal, wohin mein Weg mich in Zukunft auch führte,
so viel stand für mich fest: Ich würde ganz sicher immer an der
Küste leben.
    Ich ließ das Glas mit der Schachtel in einen Din-A5-Briefumschlag
gleiten, verklebte ihn sicherheitshalber mit ein paar
zusätzlichen Tesafilm-Streifen und verstaute ihn anschließend
zusammen mit meiner Geldbörse und meinem Handy im Seitenfach
meines Rucksacks.

    Bis zum Traveufer war es nicht weit. Ich brauchte nicht mal
fünf Minuten, um die Grünfläche auf der anderen Seite der
Rhederbrücke zu erreichen. Inzwischen war es kurz vor halb
acht, die Sonne stand schon recht tief und malte tanzende
goldgelbe Ovale auf die Wasseroberfläche, auf der in einiger
Entfernung ein Schwan und ein paar Enten trieben.
    Es war nicht mehr viel los hier – ich konnte weder Spaziergänger
noch spielende Kinder entdecken –, nur aus dem Biergarten,
der oberhalb des Krähenteiches lag, hallten fröhliche
Feierabendstimmen zu mir herüber.
    Ich suchte mir eine offene Stelle im Ufergebüsch, zog meine
Sneakers und Strümpfe aus und krempelte die Jeans bis zu
den Knien hoch. Dann ließ ich mich ins Gras hinunter und
tauchte langsam meine Zehen in die Trave.
    Augenblicklich ging das Jucken über meinen Knöcheln, das
sich bereits kurz nach dem Verlassen unseres Hauses bemerkbar
gemacht hatte, in ein heftiges Brennen über, das innerhalb
von Sekundenbruchteilen an den Außenseiten meiner Beine
bis zu meinen Hüften hinaufschoss und mein Becken gleich
darauf mit einem wohligen Kribbeln füllte. Ich spürte das Zucken meiner Muskeln und den mächtigen Drang meiner Füße
und Beine, sich zu einem Haifischschwanz zusammenzufügen.
Doch so groß mein Verlangen auch war, in das lockende Nass
hinabzutauchen, ich kämpfte entschlossen dagegen an.
    Die Trave führte Süßwasser und vermischte sich erst jenseits
der Schlutuper Wiek allmählich mit dem Salz der Ostsee. Ich
hatte keine Ahnung, ob ich das überhaupt vertrug, denn mit
dem bisschen Duschwasser, das ich hin und wieder einatmete,
war das sicher nicht zu vergleichen. Irgendwann würde ich es
ausprobieren, aber nicht heute. Heute hatte ich anderes vor.
    Ich holte den Umschlag hervor und öffnete ihn vorsichtig.
    Gordy,
dachte ich, während ich mit zwei Fingern nach der
kleinen Schachtel fischte.
Ich glaube, ich weiß jetzt, was diese Kristalle
in deinen Augen zu bedeuten hatten. Es sind ungeweinte Tränen
gewesen, in denen meine Schmerzen eingeschlossen waren, die du für
mich getragen hast. In dem Moment, als ich diese Kristalle als

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