Meeresrauschen
Gott!«, wisperte Sina.
Sie ließ meine Hand los, beschleunigte ihre Schritte und
ging dann langsam neben den Steinen in die Hocke.
Ich blieb gut zwei Meter davon entfernt stehen und sah Sina
dabei zu, wie sie die Tränen vergoss, die eigentlich ich hätte
weinen müssen. Aber ich konnte nicht. Und vielleicht wollte
ich es auch gar nicht. Ohne Pas Tod wäre ich nie nach Guernsey
geflogen, ohne ihn hätte ich mich nicht verwandelt, ohne
ihn hätte ich Gordian niemals getroffen … und verloren.
Gordy war das größte Geschenk und zugleich der schlimmste
überhaupt vorstellbare Schmerz. Und plötzlich war mir klar,
dass ich zuerst ihn loslassen musste, bevor ich mich wirklich
von meinem Vater verabschieden konnte.
Ich trocknete Sinas Tränen mit einem Papiertaschentuch,
das ich in ihrer Umhängetasche fand, und hakte mich bei ihr
unter. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, gewann
sie allmählich ihre Fassung zurück.
»Puh«, sagte sie seufzend. »Das war echt … hart.«
»Ja, aber es war gut, dass ich endlich hier war.«
Sina nickte. Dann stutzte sie und betrachtete mich verwundert.
»Allerdings hast du keine Träne vergossen.«
»Nein«, erwiderte ich schulterzuckend. »Ich glaube, das
mache ich erst, wenn ich zu Hause in meinem Zimmer bin …
Ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich …«
»Aber ich dachte …«, wollte Sina protestieren, doch dann
besann sie sich offenbar und sagte: »Schon okay, El. Na klar
sollst du jetzt erst mal für dich sein. Ich meine, wir haben uns
zwei Monate nicht gesehen. Was machen da schon ein paar
Stunden oder Tage mehr oder weniger aus?«
»Danke«, sagte ich leise und drückte ihren Arm. »… auch
dafür, dass du mitgekommen bist.«
»Kein Ding«, meinte sie. »Wozu hat man denn eine beste
Freundin? Außerdem hat es mir ja selber gutgetan.« Sina fuhr
sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Nase, seufzte
tief und wechselte dann gekonnt das Thema. »Wirst du jetzt
eigentlich wieder zur Schule gehen? Du könntest die Zwölfte
bestimmt noch schaffen. Du warst doch immer ganz gut, und
Sarah, Bille und ich …«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, nicht. Ich werde irgendwas
Handwerkliches machen. Vielleicht auch eine Ausbildung zur
Fotografin.«
»El, du hast dich nie für Fotografie interessiert!«
Da hatte Sina zweifellos recht.
»Außerdem hast du zwei linke Hände!«
»Stimmt«, sagte ich. »Aber irgendwas muss ich ja machen.«
Sie sah mich ungläubig an.
»Irgendwas?«
»Zur Schule gehe ich jedenfalls nicht mehr«, entgegnete ich.
»Ich bin sicher, dass ich kein Abi brauche.«
»Aber das ist doch absurd«, regte Sina sich auf. »Wie kannst
du dir da so sicher sein? Alle Leute, die nicht wissen, was sie
später mal machen wollen, gehen so lange wie möglich zur
Schule. Es wäre geradezu fahrlässig, wenn du mittendrin abbrichst
und …«
»Tu ich ja gar nicht«, fiel ich ihr abermals ins Wort. Ich hatte
absolut keine Lust, über meine berufliche Zukunft zu reden,
aber ich wusste, dass Sina nicht eher Ruhe geben würde, bis
ich ihr etwas Handfestes lieferte. »Ich werde eine Ausbildung
beginnen. Ich gehe zu einer dieser Beratungsstellen und hör
mir einfach mal an, was es so gibt. Vielleicht gehe ich auch für
eine Weile ins Ausland. Australien wäre cool oder Kanada.«
»Na sicher«, brummte Sina. »Und am Ende hängst du genauso
in der Luft wie deine Mutter. Die hat sich ja auch nie so
richtig für einen Beruf entscheiden können. Womöglich hat
sie dir das noch vererbt.«
Das war sogar sehr gut möglich. Auf jeden Fall trug Mam
das Nixen-Gen in sich. Schule und Ausbildung waren da sicher
nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Die Nixe,
die ich kennengelernt hatte, waren gewissermaßen naturbegabt
und besaßen darüber hinaus noch Talente, von denen
die Menschen nur träumen konnten.
»Ich werde schon etwas Passendes finden«, sagte ich. »Das
verspreche ich dir. Also, mach dir bitte keine Gedanken.«
Ich gab mich der Hoffnung hin, dass sie sich damit fürs
Erste zufriedengeben würde, aber das war leider nur ein frommer
Wunsch. Sinas Vernunftsinn arbeitete bereits auf Hochtouren.
Bis zum Bahnhof redete sie ununterbrochen auf mich
ein, und als wir schließlich wieder im Zug saßen, kramte sie
sofort einen Kollegblock und einen Stift hervor und machte
eine Liste der Berufe, die sich ihrer Ansicht nach am besten
für mich eigneten. Und dazu zählten vor allem: Dolmetscherin
und Übersetzerin oder auch Lektorin oder Werbetexterin,
weil ich
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