Meeresrauschen
kleine
glitzernde Punkte in deinen Augen sah, konnte ich nicht mehr davonlaufen
oder mich in mich selbst zurückziehen, sondern war gezwungen,
meine Schmerzen zu spüren. Und damals war es gut, dass du bei mir
warst.
Vorsichtig hob ich den Deckel und betrachtete Gordians
Träne, in der sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelte.
»Nun bin ich allein«, flüsterte ich, während ich den Kristall
in meine hohle Hand rollen ließ. »Und ich kann dir gar nicht
beschreiben, wie unendlich weh es tut, nicht mehr bei dir sein
zu dürfen. Trotzdem bin ich froh, dass deine Träne mich ins
Leben zurückgeholt hat, dass ich den Brief von meiner Urgroßmutter
gelesen habe und ich mich deshalb noch einmal
richtig und ganz bewusst von dir verabschieden kann.«
Ich beugte mich über die Uferkante und tauchte die Hand
langsam ins Wasser. Gordys Träne schwamm wie ein winziger
funkelnder Diamant auf der Oberfläche.
»Ich weiß zwar noch immer nicht, welchen Weg ich einschlagen
soll«, fuhr ich mit bebender Stimme fort, »aber zumindest
kann ich mittlerweile besser Entscheidungen treffen. Keine
Ahnung, wieso, aber ich habe keine Angst mehr davor, Fehler
zu machen. Vielleicht liegt es daran, dass mir – ganz egal, was
ich auch tue – ohnehin nichts Schlimmeres passieren kann,
als dich verloren zu haben.« Mein Hals wurde eng und meine
Augen brannten, während ich diese Sätze sagte. »Jedenfalls
kann ich meine Schmerzen nun allein tragen und deshalb
gebe ich dir diesen Kristall zurück«, setzte ich stockend hinzu,
dann öffnete ich meine Hand und zog sie sachte aus dem Wasser.
»Ich liebe dich, Gordy, mehr als alles auf der Welt.«
Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel, und ehe
ich sie auffangen konnte, war sie bereits über meine Wange
gekullert und in die Trave gefallen.
Schillernd tanzte sie auf den Wellen und trieb langsam auf
die von Gordy zu, bis sie sich berührten … wieder voneinander
abstießen … abermals berührten … und sich schließlich vom
Ufer entfernten und mit der Strömung in Richtung Ostsee
schaukelten.
»Aber ich kann dich jetzt gehen lassen, Gordy«, flüsterte ich,
tastete nach dem Glas und ließ auch meine Tränenkristalle
und damit all meinen Schmerz in die Trave gleiten. Wie ein
Schweif aus goldglänzenden Lichtpunkten folgten sie den beiden
anderen zum Meer hinaus – und nun schossen mir die
Tränen geradezu in die Augen. Eine nach der anderen rollte
über mein Gesicht und fiel ins Wasser.
Anfangs waren sie noch hart und kristallen, doch schon
bald fühlten sie sich weicher an und hinterließen feuchte Spuren
auf meiner Haut.
Ein heftiges Schluchzen schüttelte mich.
Ich weinte und weinte, und mit jeder Träne, die sich aus
meinen Augen löste, ging es mir besser.
Ich gebe dich frei, Gordian … für das, was das Meer dir bestimmt
hat.
Aber so wie meine Urgroßmutter Patton niemals vergessen
hatte, würde auch Gordian immer ein Teil von mir bleiben.
Eine Weile saß ich noch still da und betrachtete das Schauspiel
der glitzernden Tränen, die allmählich kleiner wurden und
ähnlich einem verlöschenden Stern hell aufblinkten, bevor sie
sich im Wasser auflösten. Sie würden es also nicht mehr bis ins
Meer schaffen, aber das spielte keine Rolle, denn sie waren ja
trotzdem mit ihm verbunden.
Dieser Gedanke gab mir Trost und langsam breitete sich ein
Gefühl von Frieden in meinem Herzen aus.
Ich wusste, dass ich die einzig richtige Entscheidung getroffen
hatte. Nie und nimmer hätte ich es mir verziehen, wenn
ich auf Guernsey geblieben wäre und damit womöglich eine
Katastrophe heraufbeschworen hätte. Meine Liebe zu Gordy
wäre dann für alle Zeit mit einer schweren Schuld belastet gewesen
und daran vielleicht irgendwann zerbrochen. So aber
konnte ich mich an die schönen Momente mit ihm erinnern
und sie in mir bewahren.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte ich, »ich komme schon
klar. Und du auch«, fügte ich bekräftigend hinzu, zog meine
Füße aus dem Wasser, rubbelte sie im Gras trocken und streifte
Strümpfe und Schuhe über.
»Ich hoffe so sehr, dass du zu deinen Eltern geschwommen
bist und deiner Bestimmung folgen kannst.«
Daran, dass Javen Spinx und Jane in diesem Punkt recht
hatten, wollte ich ganz fest glauben. So weh mir dieser Gedanke
damals getan hatte, erleichterte er mir inzwischen den
Abschied umso mehr. Ich konnte nun auch die Angst um
Gordy endlich loslassen und mir sicher sein, dass das Meer
ihn schützen würde.
Ich verstaute das Glas und die kleine
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